11.02.2009 17:42:37
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Die Reise nach Jerusalem
Von Dr. Christoph Kind, Leiter Fondsmanagement Asset-Allocation FRANKFURT-TRUST
Wenn die Beipackzettel von Arzneimitteln vor "Risiken und Nebenwirkungen" warnen, findet dies meist wenig Beachtung. Erst wenn die Nebenwirkungen eingetreten sind, wird das Kleingedruckte plötzlich intensiv gelesen. Ähnlich mag es vielen gehen, die im Jahr 2008 erhebliche Verluste hinnehmen mussten und nun darüber nachdenken, wie diese zu vermeiden gewesen wären. Das Thema Risiko spielt dabei die zentrale Rolle.
Risiko: weder Buchstabe noch Ziffer
Unsere Vorstellung von Risiken ist alles andere als präzise, und das liegt am Risiko-Begriff selbst. Während "Ertrag" ein wohldefinierter Prozentsatz ist, existiert für "Risiko" keine einheitliche Definition. Dabei gibt es zahllose Bemühungen, Risiken zu definieren und zu klassifizieren. Eine der ältesten Ansätze sind Ratings, mit denen eine Rangordnung von Kreditausfall-Risiken abgebildet werden soll. So sollte ein AAAEmittent weniger ausfallgefährdet sein als ein AA-Emittent und dieser wiederum sicherer als ein A-Emittent. Dieser scheinbar bescheidene Versuch der Risiko-Klassifikation hat während der Finanzkrise erneut ein Fiasko erlebt. Die größten Verluste mussten Anleger bei relativ gut gerateten Banken und Finanzdienstleistern hinnehmen. Für dieses Desaster gibt es zahlreiche Gründe – etwa die falschen Anreizstrukturen bei den Rating-Agenturen, die von denjenigen bezahlt werden, die sie zu beurteilen haben. Vor allem aber sind Ratingagenturen keine neutralen Punkte-Richter, die nach der Kür ihre Bewertungskarten hochhalten. Sie sind ein integraler Bestandteil des Finanzmarkts. Die übliche Dramaturgie der Bankenkrise sah so aus, dass ein massiver Verfall des Aktienkurses die Ratingagenturen auf den Plan rief. Bei sinkender Börsenkapitalisierung steigt der Anteil des Fremdkapitals am Unternehmenswert und damit die Ausfallwahrscheinlichkeit. Eine Senkung des Ratings ist dann die kaum vermeidbare Konsequenz. Die Herabstufung verschlimmert jedoch die Refinanzierungsprobleme der betroffenen Bank und verstärkt dadurch den Druck auf den Aktienkurs. Im Extremfall führt diese Spirale zur Insolvenz. Für die Ratingagenturen, und alle diejenigen, die sich auf ihr Urteil verlassen, führt dies in ein Dilemma: Die Warnung vor dem Risiko kann zum Auslöser noch viel größerer Risiken werden. Weniger subjektiv als Ratings scheinen quantitative Risikomaße zu sein. Am bekanntesten sind Standardabweichungen, Korrelation und die Kombination aus beidem, das Beta. Aus historischen Daten berechnete Standardabweichungen sind in Theorie und Praxis eines der prominentesten Risikomaße. Das Eigentümliche am Risiko ist jedoch, dass es nicht in der Vergangenheit, sondern nur in der Zukunft existiert. Eine historische Standardabweichung wäre nur dann ein gutes Risikomaß, wenn sie in die Zukunft extrapoliert werden könnte und wenn die dazugehörige Wahrscheinlichkeitsverteilung bekannt wäre. Genau diese beiden Punkte sind jedoch nicht erfüllt. Standardabweichungen von Finanzmarktzeitreihen sind im Zeitverlauf nicht konstant. Und die meistgetroffene Annahme der Normalverteilung von Renditen entspricht ebenfalls nicht der Empirie. Während es inzwischen eine Vielzahl von statistischen Verfahren gibt, um die Variabilität von Standardabweichungen abzubilden, hält sich die Annahme der Normalverteilung hartnäckig. Auch Risikomaße wie der Value-at-Risk oder die Optionspreise nach Black und Scholes basieren auf ihr. Der Vorteil der Normalverteilung liegt darin, dass sie viele Berechnungen vereinfacht. Unter der Annahme der Normalverteilung lassen sich Risiken durch eine einzelne Zahl wie die Standardabweichung ausdrücken. Doch Risiken sind nicht eindimensional. Sie lassen sich weder auf eine Buchstabenkombination noch auf eine Ziffer reduzieren.
Die Reise nach Jerusalem
Am besten zeigt ein Beispiel, was finanzielle Risiken sind und warum sie sich so schwer quantifizieren lassen. Als Beispiel soll der Immobilienmarkt dienen, der in den USA der Ausgangspunkt der aktuellen Krise war. Am Anfang steht die Boom-Phase, in der steigende Immobilienpreise ständig neue Käufer anlocken. Da das Angebot an Immobilien kurzfristig starr ist, steigen die Preise der bestehenden Häuser. Für die momentanen Besitzer eine wunderbare Sache: Sie können ihre Immobilien verkaufen, mit dem Erlös ihre Schulden tilgen und, wenn die Sache gut läuft, einen Gewinn kassieren. Mehr Käufer werden angelockt, und mehr Banken sind bereit, Immobilien zu finanzieren. Die Preise steigen weiter. Durch den permanenten Anstieg wirken Immobilien irgendwann überteuert. Doch solange neue Käufer in den Markt kommen und der Kredithahn offen ist, bläht sich die Blase weiter auf. Solche Systeme, deren Stabilität auf einem exponentiellen Zuwachs der Systemteilnehmer beruht, kollabieren zu einem bestimmten Zeitpunkt. In der überhitzten Phase reicht ein einzelner Kreditausfall oder der Rückzug eines potenziellen Käufers aus, um die Blase platzen zu lassen. Nun gibt es auf einmal nicht mehr genug Käufer, und Panik entsteht. Alle versuchen gleichzeitig, ihre Immobilien zu veräußern, finden aber keine Käufer mehr.
Die Immobilienpreise kollabieren
Darin liegt das eigentliche Risiko: Der Markt kann plötzlich vollkommen illiquide werden. Die Situation gleicht dann der "Reise nach Jerusalem": Wenn die Musik stoppt, gibt es nicht genug Stühle. Wer nicht rechtzeitig einen Käufer findet, also einen "Sitzplatz" ergattert, bleibt mit einem Bestand illiquider und damit entwerteter Assets stehen. In dieser Situation könnten sich alle ohne Sitzplatz gegenseitig helfen. Doch am Finanzmarkt passiert genau das Gegenteil: Die gegenseitige Hilfe in Form von Kreditvergaben wird eingestellt. Zum Liquiditätsrisiko gesellt sich das Kontrahentenrisiko. Wenn nicht klar ist, auf welchem Berg illiquider und wertloser Assets die Gegenpartei sitzt, wird die Geschäftsbeziehung eingestellt. Statt sich gegenseitig zu helfen, wird gewartet, wer von all jenen ohne Sitzplatz am schwächsten ist und zuerst in die Knie gehen muss.
Extreme Risiken, extreme Chancen
Liquiditäts- und Kontrahentenrisiken sind die dominanten Risiken der gegenwärtigen Bankenkrise. Beide lassen sich nicht in das Schema der Normalverteilung pressen. Vielmehr drängen sich Parallelen zu Naturkatastrophen auf: Wie bei einem Erdbeben oder einer Lawine kommt es über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer kaum bemerkbaren Kulmination von Verspannungen, die sich dann plötzlich und heftig entladen. Tatsächlich sind einige Ansätze entwickelt worden, die die Methoden der Analyse solcher extremer Ereignisse auf den Finanzmarkt übertragen. Für den individuellen Anleger können solche Analysen und Methoden hilfreich sein, wenngleich auch damit der genaue Zeitpunkt einer Katastrophe nicht vorausgesagt werden kann. Ein Frühwarnsystem für Finanzkrisen, wie es jetzt manche Politiker fordern, wird dagegen kaum funktionieren, denn wie im Fall der Ratingagenturen kann die öffentliche Warnung vor einer Krise zu ihrem Auslöser werden. Welche Konsequenzen sollen Anleger aus der Tatsache ziehen, dass Finanzmärkte extreme und kaum quantifizierbare Risiken bergen können?
1) Trau keinem Risikomaß: Risikomaße wie Ratings oder Standardabweichungen geben oft falsche Investitionssignale. Übliche Klassifikationen riskanter Assets verlieren in der Krise ihre Bedeutung, denn auch vermeintlich risikolose Investments können sich dann als hochriskant entpuppen.
2) Diversifikation ist Trumpf: Das folgt aus dem ersten Punkt. Wer sich seiner Risiken nicht sicher sein kann, darf erst recht nicht alles auf eine Karte setzen. Doch auch die Diversifikation kann sich in der Krise als trügerisch erweisen, wenn Korrelationszusammenhänge nicht mehr funktionieren.
3) Wo extreme Risiken sind, sind auch extreme Chancen: Das ist die positive Botschaft. Auch extreme Gewinne kommen wesentlich häufiger vor, als es die Normalverteilung suggeriert.
Wenn die Beipackzettel von Arzneimitteln vor "Risiken und Nebenwirkungen" warnen, findet dies meist wenig Beachtung. Erst wenn die Nebenwirkungen eingetreten sind, wird das Kleingedruckte plötzlich intensiv gelesen. Ähnlich mag es vielen gehen, die im Jahr 2008 erhebliche Verluste hinnehmen mussten und nun darüber nachdenken, wie diese zu vermeiden gewesen wären. Das Thema Risiko spielt dabei die zentrale Rolle.
Risiko: weder Buchstabe noch Ziffer
Unsere Vorstellung von Risiken ist alles andere als präzise, und das liegt am Risiko-Begriff selbst. Während "Ertrag" ein wohldefinierter Prozentsatz ist, existiert für "Risiko" keine einheitliche Definition. Dabei gibt es zahllose Bemühungen, Risiken zu definieren und zu klassifizieren. Eine der ältesten Ansätze sind Ratings, mit denen eine Rangordnung von Kreditausfall-Risiken abgebildet werden soll. So sollte ein AAAEmittent weniger ausfallgefährdet sein als ein AA-Emittent und dieser wiederum sicherer als ein A-Emittent. Dieser scheinbar bescheidene Versuch der Risiko-Klassifikation hat während der Finanzkrise erneut ein Fiasko erlebt. Die größten Verluste mussten Anleger bei relativ gut gerateten Banken und Finanzdienstleistern hinnehmen. Für dieses Desaster gibt es zahlreiche Gründe – etwa die falschen Anreizstrukturen bei den Rating-Agenturen, die von denjenigen bezahlt werden, die sie zu beurteilen haben. Vor allem aber sind Ratingagenturen keine neutralen Punkte-Richter, die nach der Kür ihre Bewertungskarten hochhalten. Sie sind ein integraler Bestandteil des Finanzmarkts. Die übliche Dramaturgie der Bankenkrise sah so aus, dass ein massiver Verfall des Aktienkurses die Ratingagenturen auf den Plan rief. Bei sinkender Börsenkapitalisierung steigt der Anteil des Fremdkapitals am Unternehmenswert und damit die Ausfallwahrscheinlichkeit. Eine Senkung des Ratings ist dann die kaum vermeidbare Konsequenz. Die Herabstufung verschlimmert jedoch die Refinanzierungsprobleme der betroffenen Bank und verstärkt dadurch den Druck auf den Aktienkurs. Im Extremfall führt diese Spirale zur Insolvenz. Für die Ratingagenturen, und alle diejenigen, die sich auf ihr Urteil verlassen, führt dies in ein Dilemma: Die Warnung vor dem Risiko kann zum Auslöser noch viel größerer Risiken werden. Weniger subjektiv als Ratings scheinen quantitative Risikomaße zu sein. Am bekanntesten sind Standardabweichungen, Korrelation und die Kombination aus beidem, das Beta. Aus historischen Daten berechnete Standardabweichungen sind in Theorie und Praxis eines der prominentesten Risikomaße. Das Eigentümliche am Risiko ist jedoch, dass es nicht in der Vergangenheit, sondern nur in der Zukunft existiert. Eine historische Standardabweichung wäre nur dann ein gutes Risikomaß, wenn sie in die Zukunft extrapoliert werden könnte und wenn die dazugehörige Wahrscheinlichkeitsverteilung bekannt wäre. Genau diese beiden Punkte sind jedoch nicht erfüllt. Standardabweichungen von Finanzmarktzeitreihen sind im Zeitverlauf nicht konstant. Und die meistgetroffene Annahme der Normalverteilung von Renditen entspricht ebenfalls nicht der Empirie. Während es inzwischen eine Vielzahl von statistischen Verfahren gibt, um die Variabilität von Standardabweichungen abzubilden, hält sich die Annahme der Normalverteilung hartnäckig. Auch Risikomaße wie der Value-at-Risk oder die Optionspreise nach Black und Scholes basieren auf ihr. Der Vorteil der Normalverteilung liegt darin, dass sie viele Berechnungen vereinfacht. Unter der Annahme der Normalverteilung lassen sich Risiken durch eine einzelne Zahl wie die Standardabweichung ausdrücken. Doch Risiken sind nicht eindimensional. Sie lassen sich weder auf eine Buchstabenkombination noch auf eine Ziffer reduzieren.
Die Reise nach Jerusalem
Am besten zeigt ein Beispiel, was finanzielle Risiken sind und warum sie sich so schwer quantifizieren lassen. Als Beispiel soll der Immobilienmarkt dienen, der in den USA der Ausgangspunkt der aktuellen Krise war. Am Anfang steht die Boom-Phase, in der steigende Immobilienpreise ständig neue Käufer anlocken. Da das Angebot an Immobilien kurzfristig starr ist, steigen die Preise der bestehenden Häuser. Für die momentanen Besitzer eine wunderbare Sache: Sie können ihre Immobilien verkaufen, mit dem Erlös ihre Schulden tilgen und, wenn die Sache gut läuft, einen Gewinn kassieren. Mehr Käufer werden angelockt, und mehr Banken sind bereit, Immobilien zu finanzieren. Die Preise steigen weiter. Durch den permanenten Anstieg wirken Immobilien irgendwann überteuert. Doch solange neue Käufer in den Markt kommen und der Kredithahn offen ist, bläht sich die Blase weiter auf. Solche Systeme, deren Stabilität auf einem exponentiellen Zuwachs der Systemteilnehmer beruht, kollabieren zu einem bestimmten Zeitpunkt. In der überhitzten Phase reicht ein einzelner Kreditausfall oder der Rückzug eines potenziellen Käufers aus, um die Blase platzen zu lassen. Nun gibt es auf einmal nicht mehr genug Käufer, und Panik entsteht. Alle versuchen gleichzeitig, ihre Immobilien zu veräußern, finden aber keine Käufer mehr.
Die Immobilienpreise kollabieren
Darin liegt das eigentliche Risiko: Der Markt kann plötzlich vollkommen illiquide werden. Die Situation gleicht dann der "Reise nach Jerusalem": Wenn die Musik stoppt, gibt es nicht genug Stühle. Wer nicht rechtzeitig einen Käufer findet, also einen "Sitzplatz" ergattert, bleibt mit einem Bestand illiquider und damit entwerteter Assets stehen. In dieser Situation könnten sich alle ohne Sitzplatz gegenseitig helfen. Doch am Finanzmarkt passiert genau das Gegenteil: Die gegenseitige Hilfe in Form von Kreditvergaben wird eingestellt. Zum Liquiditätsrisiko gesellt sich das Kontrahentenrisiko. Wenn nicht klar ist, auf welchem Berg illiquider und wertloser Assets die Gegenpartei sitzt, wird die Geschäftsbeziehung eingestellt. Statt sich gegenseitig zu helfen, wird gewartet, wer von all jenen ohne Sitzplatz am schwächsten ist und zuerst in die Knie gehen muss.
Extreme Risiken, extreme Chancen
Liquiditäts- und Kontrahentenrisiken sind die dominanten Risiken der gegenwärtigen Bankenkrise. Beide lassen sich nicht in das Schema der Normalverteilung pressen. Vielmehr drängen sich Parallelen zu Naturkatastrophen auf: Wie bei einem Erdbeben oder einer Lawine kommt es über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer kaum bemerkbaren Kulmination von Verspannungen, die sich dann plötzlich und heftig entladen. Tatsächlich sind einige Ansätze entwickelt worden, die die Methoden der Analyse solcher extremer Ereignisse auf den Finanzmarkt übertragen. Für den individuellen Anleger können solche Analysen und Methoden hilfreich sein, wenngleich auch damit der genaue Zeitpunkt einer Katastrophe nicht vorausgesagt werden kann. Ein Frühwarnsystem für Finanzkrisen, wie es jetzt manche Politiker fordern, wird dagegen kaum funktionieren, denn wie im Fall der Ratingagenturen kann die öffentliche Warnung vor einer Krise zu ihrem Auslöser werden. Welche Konsequenzen sollen Anleger aus der Tatsache ziehen, dass Finanzmärkte extreme und kaum quantifizierbare Risiken bergen können?
1) Trau keinem Risikomaß: Risikomaße wie Ratings oder Standardabweichungen geben oft falsche Investitionssignale. Übliche Klassifikationen riskanter Assets verlieren in der Krise ihre Bedeutung, denn auch vermeintlich risikolose Investments können sich dann als hochriskant entpuppen.
2) Diversifikation ist Trumpf: Das folgt aus dem ersten Punkt. Wer sich seiner Risiken nicht sicher sein kann, darf erst recht nicht alles auf eine Karte setzen. Doch auch die Diversifikation kann sich in der Krise als trügerisch erweisen, wenn Korrelationszusammenhänge nicht mehr funktionieren.
3) Wo extreme Risiken sind, sind auch extreme Chancen: Das ist die positive Botschaft. Auch extreme Gewinne kommen wesentlich häufiger vor, als es die Normalverteilung suggeriert.
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