FTSE 100
09.06.2017 20:36:41
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Börsen-Zeitung: Brexit and beyond, Marktkommentar von Dietegen Müller
Frankfurt (ots) - Der Verlust der absoluten Mehrheit für die
britischen Konservativen hat an den Finanzmärkten zu Ausschlägen,
aber keinen Verwerfungen geführt. Erste Reaktionen zeigten, dass
Investoren den Wahlausgang, der eine völlig unklare Ausgangslage für
die Brexit-Verhandlungen schafft, intuitiv negativ für den
Wechselkurs, aber auch für auf den britischen Markt ausgerichtete
Unternehmen bewerten. Der Pfund-Kurs und auf Großbritannien
konzentrierte Unternehmen könnten unter einer stärker
interventionistischen Regierung mit anderen fiskalpolitischen
Schwerpunkten leiden, die nach dem Erfolg der Labour-Partei da und
dort als Möglichkeit an die Wand gemalt wird.
Dass die Reaktionen am Markt nicht stärker ausfielen, mag daran
liegen, dass internationale Investoren schon länger einen Bogen um
britische Assets machen. Eine Umfrage des Assetmanagers Invesco ergab
aber jüngst, dass die Insel als unattraktivstes Investitionsziel
unter den entwickelten Ländern gilt - noch hinter Italien. Dies
bedeutet, dass es derzeit einiges internationales Kapital gibt, das
sich aus dem Markt zusätzlich verabschieden könnte.
Zudem haben große britische Unternehmen aus dem FTSE 100 kaum
negative Auswirkungen durch einen Regierungswechsel oder chaotische
Brexit-Verhandlungen zu befürchten, erzielen sie doch die Mehrheit
ihrer Ergebnisse außerhalb des britischen Währungsraums. Ihre
Perspektiven sind zudem gut: Die von Bloomberg aggregierten
Schätzungen lassen für den FTSE 100 im Mittel ein Gewinnplus von rund
35 Prozent für das laufende und von 7 Prozent für das nächste Jahr
erwarten.
Kleinere Unternehmen im FTSE 250 haben demgegenüber regional
ausgerichtete Geschäftsmodelle. Dies fällt mitunter auch für die
Kursentwicklung ins Gewicht: Der FTSE 250 fiel am Freitag zeitweise
um 1 Prozent, während der FTSE 100 zeitweise über 1 Prozent gewann.
Doch wer am Tag nach dem Brexit-Votum von 2016 eingestiegen ist, hat
mit britischen Small und Mid Caps nicht schlechter abgeschnitten als
jemand, der auf den FTSE 100 setzte.
Weil das Debakel von Premier Theresa May das Risiko von baldigen
Neuwahlen in sich trägt und die Labour-Partei überproportional
Stimmen gewonnen hat, weisen Ökonomen auf eine mögliche Änderung in
der Fiskalpolitik hin. Die von May vertretene Austeritätspolitik hat
einen Schlag erhalten. Azad Zangana, Volkswirt bei Schroders, geht
deswegen von höheren Gilt-Renditen und Inflationsrisiken aus, die
sich auch in steigenden Hypothekarsätzen auf dem Immobilienmarkt
niederschlagen dürften. Britische Staatspapiere werden eher
underperformen.
Wohin Großbritannien aber europapolitisch steuert, darüber gehen
die Einschätzungen am Markt auseinander. Eine Mehrheit sieht im
Erstarken von Labour die Chance auf gemäßigtere Positionen in den
Brexit-Verhandlungen. Auch wenn sich der Prozess nun länger hinziehen
dürfte, würde am Ende die britische Wirtschaft durch eine
einvernehmlichere Lösung besser dastehen, heißt es. Die ersten
Marktreaktionen zeigen, dass ein "glimpflicher" Brexit weiterhin als
das wahrscheinlichere Szenario gilt.
Nur eine Minderheit der Beobachter - darunter der Chefvolkswirt im
Wealth Management der UBS, Paul Donovan - sieht das Risiko, dass
Euroskeptiker an Einfluss gewinnen könnten. Diese sehen ihre frühere
Widersacherin May geschwächt und könnten jegliches Machtvakuum für
ihre Interessen nutzen. Damit könnten sie erfolgreich sein, wenn das
Motiv für jenen Teil der Bevölkerung, der für den Brexit gestimmt
hat, tatsächlich nur war, der regierenden "Elite" einen Denkzettel zu
verpassen und dabei ein europäisches Erdbeben sozusagen als
Kollateralschaden in Kauf zu nehmen. Die Brexit-Verhandlungen würden
dann als innenpolitische Projektions- und Profilierungsfläche
wahrgenommen, in der mehr Emotionen denn sachliche Überlegungen über
den eigenen Tellerrand hinaus zählen.
Nun sind Politik und Finanzmarkt Systeme, die sich auf längere
Sicht einer Prognose entziehen. Ein Blick auf Erfahrungen aus der
Schweiz zeigt, dass sich auch in europapolitischen Fragen mitunter
aus innenpolitischen Motiven unheilige Allianzen zwischen linkem und
rechtem Pol des politischen Spektrums bilden. Diese können einen
nicht unerheblichen Einfluss auf Verhandlungspositionen der Regierung
erlangen. Da Großbritannien politisch und ökonomisch stattliches
Gewicht hat, wäre eine solche Entwicklung für die EU, die zunächst
als Gewinnerin dazustehen scheint, und für ihren Finanzmarkt eine
Belastung. Unsicherheit dämpft wirtschaftliche Aktivitäten oder lädt
gar zu Alternativstrategien ein.
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