17.08.2015 22:52:42

Mittelbayerische Zeitung: Kurzsichtiger Kontinent: Die EU braucht eine einheitliche Asylpolitik - statt nationalem Egoismus und Wegducken. Von Sebastian Heinrich

Regensburg (ots) - Der Flüchtlingsnotstand wird Europa wohl noch mehr beschäftigen als die Stabilität des Euro. Das hat Kanzlerin Angela Merkel im ZDF-Sommerinterview gesagt - und mehr EU-weite Einheit in Sachen Asylpolitik gefordert. Sie hat Recht. Denn was sich dieser Tage auch in Ostbayern abspielt - Menschen, die an Autobahnen und Gleisen abgesetzt werden, die von überforderten Polizisten in Zügen und vollgestopften Autos entdeckt werden - ist die Folge des großen europäischen Versagens in der Flüchtlingspolitik. Eine Politik, die abschotten will - obwohl Abschottung offensichtlich keine Menschen aufhält, deren Angst vor Gefahren und Elend in der Heimat größer ist als die vor den Gefahren der Flucht. Angela Merkel hat Recht: Europa braucht endlich eine gemeinsame Asylpolitik. Doch sie verschweigt, dass sie eine Mitschuld am bisherigen desaströsen Kurs Europas trägt. Seit bald zehn Jahren trägt Merkel Regierungsverantwortung, ist sie mit den von ihr angeführten Regierungen maßgeblich an Entscheidungen auf EU-Ebene beteiligt. Doch Impulse für eine neue Asylpolitik hat Deutschland bisher nicht geliefert. Im Gegenteil: Auch Deutschland verhält sich seit Jahren unsolidarisch. Über das Dublin-Verfahren wälzen die EU-Mitglieder in Mittel- und Nordeuropa die Verantwortung für Asylverfahren auf die Staaten Südeuropas ab - vor allem auf Italien und Griechenland. Diese überforderten, krisengebeutelten Staaten reagieren wiederum unsolidarisch: Indem sie ihre Registrierungspflichten vernachlässigen
und Flüchtlinge sehenden Auges nach Norden weiterreisen lassen. Unsolidarisch sind auch EU-Staaten wie Tschechien und Polen, die sich weigern, eine angemessen Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen - weil sie jene rechtsnationalen Ressentiments fürchten, die gerade Politiker wie der tschechische Präsident Milos Zeman mit rassistischem Anti-Islam-Gefasel befördern. Was sind die Sonntagsreden vom europäischen Geist angesichts solchen Egoismus noch wert? Eine solidarische Flüchtlingspolitik würde bedeuten, Menschen auf der Flucht fair zu verteilen - und den Staaten Sanktionen aufzubrummen, die keine Menschen aufnehmen oder sie unmenschlich behandeln. Voraussetzung dafür sind legale Wege nach Europa - damit die Zuwanderung von Anfang an zumindest teilweise gesteuert und kontrolliert werden kann. Die bisherige EU-Flüchtlingspolitik ist zudem kurzsichtig. Denn obwohl Politiker immer wieder die "Bekämpfung der Fluchtursachen" anmahnen, hat sich die EU bisher immer davor weggeduckt, die Missstände vor ihren Toren anzugehen, die Millionen Menschen in die Flucht treiben - und an denen der Westen eine große Mitschuld trägt. Die EU-Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland, reduzieren ihre Waffenexporte in Krisengebiete der heimischen Rüstungsindustrie zuliebe nicht. Die EU nutzt nicht einmal ansatzweise ihre politische und wirtschaftliche Macht, um eine gerechtere Außenhandelspolitik durchzusetzen, welche die Märkte in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht zerstört, sondern stärkt. Sie tut fast nichts, um Kriege zu lösen, zu deren Eskalation der Westen durch militärische Intervention (Afghanistan, Irak, Libyen) oder Zauderei (Syrien) beigetragen hat. Sie hat darin versagt, nach den Kriegen der neunziger Jahre Aufbauhilfe auf dem Balkan zu leisten
und so Hunger, Elend und Diskriminierung zu vermeiden, die "Wirtschaftsflüchtlinge" etwa aus Serbien und dem Kosovo in die EU treiben. Um Fluchtursachen zu bekämpfen, bräuchte Europa eine Außenpolitik, die nicht nur Tyrannen unterstützt, die Europa Flüchtlinge vom Hals halten. Sondern die auch außerhalb der EU-Grenzen Investitionen und Reformen fördert und Menschenrechte einfordert. Eine Aufgabe, für die es europäische Visionäre braucht - und keine Kurzsichtigen.

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