03.07.2014 21:41:30
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UPDATE: Die Diskussion um den Stabilitätspakt nervt Angela Merkel
(NEU: Schäuble, Weidmann)
-- Merkel übt bei Wirtschaftstag Kritik an Diskussionen
-- Bundesbankpräsident warnt vor Aufweichung der Regeln
-- Schäuble sieht Ablenkungsmanöver
BERLIN--Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat heftige Kritik an den jüngsten Diskussionen um eine Aufweichung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes geübt und damit auch eine deutliche Breitseite gegen ihren eigenen Koalitionspartner SPD gefahren. Deren Vorsitzender Sigmar Gabriel hatte sich jüngst den Forderungen seiner sozialistischen Parteifreunde aus Frankreich und Italien angeschlossen, mehr Flexibilität bei der Anwendung der Defizitregeln zu üben. Doch vor Wirtschaftsvertretern zeigte die Kanzlerin erneut klare Kante zu dem Thema.
"Wir haben vor drei Jahren begonnen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu konkretisieren", konstatierte Merkel beim Wirtschaftstag des CDU-Wirtschaftsrates in Berlin und beklagte: "Wir sitzen jetzt wieder da und diskutieren das Gleiche, wo wir uns geschworen haben, dass wir das nie wieder diskutieren."
Merkel hatte bereits vor zwei Wochen heftig reagiert, als das Thema aufkam und ihr Vizekanzler Gabriel davon sprach, "die Kosten der Reformpolitik in den einzelnen Ländern nicht auf die staatlichen Defizite anzurechnen, um betroffenen Ländern mehr Zeit zur Sanierung zu geben". Seit einem Gespräch zwischen Beiden gilt die offizielle Sprachregelung, dass an dem Stabilitätspakt nicht gerüttelt werde. Doch die Diskussion über die Aufweichung des Paktes stoppte das nicht.
In der EU treiben diese Forderung besonders Frankreichs Staatspräsident François Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi voran, dessen Land gerade die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Beide Länder wollen erreichen, dass kreditfinanzierte staatliche Investitionen in Wachstum und Beschäftigung nicht mehr auf das Budgetdefizit angerechnet werden. Bei ihrem jüngsten Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der EU daraufhin bereits mehr Flexibilität im Pakt in Aussicht gestellt.
Beim Wirtschaftstag in Berlin machte Merkel aber klar, wie wenig sie von Diskussionen über den Stabilitätspakt hält, der den europäischen Ländern eigentlich ein Defizit von höchstens drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung vorschreibt. Ihre eindringliche Warnung lautete: Damit gefährde Europa selbst sein internationales Ansehen. "Europa wird auf der Welt keine Anerkennung bekommen, wenn Jahr für Jahr die gleichen Diskussionen vorgebracht werden", mahnte Merkel, "wenn wir Versprechungen abgeben, die wir nicht einhalten können."
Unterstützung bekam die Kanzlerin von Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der am Abend bei derselben Veranstaltung vor einer Aufweichung der Regeln des Stabilitätspakts warnte. "Was die Anwendung der Regeln betrifft, sind allerdings gewisse Zweifel angebracht, wie die aktuelle Diskussion um eine flexible Auslegung des Stabilitäts- und Wachstumspakts zeigt", sagte er.
Der vor nicht einmal drei Jahren reformierte Pakt biete großen Ermessensspielraum, und die Beschlüsse des EU-Gipfels von vergangener Woche bergten die Gefahr, "erst recht den Vorwand" für eine weiche Auslegung zu liefern. "Eine allzu großzügige Auslegung dieses Spielraums würde aber mit Sicherheit der Glaubwürdigkeit des Stabilitäts- und Wachstumspakts schaden", warnte der Bundesbankpräsident.
Der Pakt sehe mittelfristig ausgeglichene oder nahezu ausgeglichene Haushalte vor, und die 3-Prozent-Defizitmarke sei eine Obergrenze und "kein regelmäßiger Zielwert", betonte er. "Die Kommission sollte die Regeln deshalb eng auslegen, und die Bundesregierung sollte sie darin entschieden unterstützen", verlangte Weidmann unter dem Beifall seiner Zuhörer aus der Wirtschaft.
Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nahm diese Kritik auf und forderte eine Einhaltung der gesetzten Stabilitätsregeln. "Ich brauche gar nicht über Flexibilität von Verträgen nachdenken", sagte er. "Ich muss sie einfach nur anwenden, ich muss einfach nur das umzusetzen, was vereinbart ist."
Der Finanzminister stellte klar: "Wir werden den Stabilitätspakt nicht verändern. Die Debatte ist langweilig wie nur was." Diese Debatte sei in Wirklichkeit ein "Ablenkungsmanöver", da es darum gehe, Felder zu identifizieren, in denen man schneller investiere. "Das ist viel intelligenter, als sich über die Flexibilisierung von Regeln, die man nicht einhält, zu unterhalten."
Die traditionsreiche Veranstaltung des Wirtschaftsrates stand unter dem Motto "Deutschland und Europa im Wandel: Marktwirtschaft stärken, Zukunft gestalten". Merkels Rede hatte den Titel "Agenda für Deutschland und Europa". Sie äußerte sich dabei zu den künftigen politischen Herausforderungen für Deutschland und Europa: unter anderem zur Energiewende, die auf Dauer "marktkonformer" ausgestaltet werden müsse, und zur anstehenden Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern, in deren Rahmen künftig "Finanzierung und Ausgabenausführung an einer Stelle liegen" müssten und nicht wie heute oft zersplittert sein dürften.
Ausdrücklich bekannte sich die Kanzlerin vor den Wirtschaftsvertretern zum geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP. "Jetzt müssen wir dafür kämpfen, dass da nicht falsche Argumente die Oberhand gewinnen, sondern dass wir dieses Abkommen wirklich zustande bekommen", sagte sie. "Wir werden noch viel Arbeit haben - aber ich fühle mich diesem Abkommen absolut verpflichtet und möchte das gern durchsetzen."
Irlands Premierminister Enda Kenny unterstützte das geplante Abkommen bei der Veranstaltung ebenfalls. "TTIP ist ein Projekt, bei dem Irland und Deutschland führen können", meinte er. Zudem machte sich der Ire vehement für einen Verbleib des Nachbarlandes Großbritannien in der EU stark. "Wir müssen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union bleibt", verlangte er.
Merkel forderte auch ein Vorantreiben einer digitalen Agenda auf europäischer Ebene, weil derzeit die "Verschmelzung der klassischen Industrie mit der digitalen Welt" stattfinde. Die Große Koalition der Union mit Gabriels SPD verteidigte die Kanzlerin mit nüchternen Argumenten. "Die Grünen wollten nicht, also bleibt die Große Koalition", stellte Merkel fest. "So einfach ist das." Die Koalition mit den Sozialdemokraten zwinge "uns zu Kompromissen und auch mich", räumte Merkel aber ein.
Der Vorsitzende des Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, hatte zuvor bei der Veranstaltung Kritik an der Großen Koalition geübt und mehr Investitionen in die marode Infrastruktur verlangt. "Wir geben zu: Mit dieser Koalition tun wir uns am schwersten", sagte er. "Deutschland lebt in einem Sommertraum", warnte Lauk und forderte: "Die schleichende Deindustrialisierung muss gestoppt werden."
Der frühere Automobilmanager beklagte einen Substanzverlust bei Brücken, Straßen und Schienen und verlangte mehr Mittel für den Breitbandausbau. "Statt in die Infrastruktur zu investieren, nutzt die Große Koalition den Spielraum für soziale Wohltaten", meinte er. "Soziale Marktwirtschaft geht anders." Auch gelte es, "die Schuldenunion" zu stoppen.
Volkswagen-Chef Martin Winterkorn schloss sich ihm an und warnte vor einem Verlust der industriellen Basis in Europa. "Was einmal weg ist, kommt so schnell nicht zurück", konstatierte er. Wie schnell der industrielle Kern schmelzen könne, zeige der Blick in Länder wie Spanien, Italien oder Großbritannien. "Ich wünsche mir von der Politik ein noch deutlicheres Bekenntnis zur Industrie in Deutschland und Europa", sagte Winterkorn. "Wir müssen unsere Technologieführerschaft verteidigen."
Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com
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July 03, 2014 15:11 ET (19:11 GMT)
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