04.03.2022 21:21:39
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Sorge um ukrainisches AKW - Nato fürchtet Lage-Verschärfung
Nach der Einnahme des AKW nahe der Großstadt Saporischschja durch russische Truppen war in der Nacht zu Freitag auf dem Gelände ein Brand ausgebrochen, laut ukrainischem Innenministerium im Gebäude eines Trainingskomplexes. Es wurde am Morgen gelöscht. Die ukrainische Aufsichtsbehörde, das russische Verteidigungsministerium und später auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) versicherten, es sei keine erhöhte Strahlung gemessen worden.
Mit bis zu 6000 Megawatt ist das AKW das leistungsfähigste Europas. IAEA-Chef Rafael Grossi sagte in Wien, derzeit sei nur einer der sechs Reaktorblöcke in Betrieb. Alle Sicherheitssysteme seien unbeeinträchtigt, allerdings seien zwei ukrainische Sicherheitsmitarbeiter verletzt worden. Grossi schlug vor, dass Russland und die Ukraine unter seiner Schirmherrschaft am Gelände des 1986 explodierten ukrainischen Kernreaktors Tschernobyl über Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Atomanlagen verhandeln.
Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats überzogen sich sich die Vertreter der Ukraine und Russlands mit Vorwürfen. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja warf Russland eine vorsätzliche Attacke auf das AKW und "nuklearen Terrorismus" vor. Es handele sich nicht nur um einen Angriff auf die Ukraine, sondern auch auf Europa, die ganze Menschheit und künftige Generationen. Auch andere Sitzungsteilnehmer sprachen von einem Bruch des Völkerrechts.
Nach ukrainischer Darstellung waren die Reaktorblöcke von russischen Panzern beschossen worden. Dagegen beschuldigte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja eine "ukrainische Sabotagegruppe", die nach einem Gefecht mit russischen Truppen das Feuer selbst gelegt habe. Von dem Kraftwerk, das nun unter russischer Kontrolle stehe, gehe keine Gefahr aus. Die Soldaten würden die Anlage sichern und sich nicht in die Arbeit der ukrainischen Arbeiter einmischen. Zudem sei "Personal mit einschlägiger Erfahrung hinzugezogen" gezogen.
Das AKW Saporischschja liegt rund 1600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Der Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Wolfram König, sieht keine konkrete Gefahr. "Wir müssen uns in Deutschland keine Sorgen machen hinsichtlich der jetzt bekanntgewordenen Situation in der Ukraine", sagte er. Selbst bei einem "ganz großen Unfall, der nicht ausgeschlossen werden kann oder eben hier durch den Beschuss einer derartigen Anlage entstehen könnte", ist nach Königs Worten "die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier in einem größeren Maß betroffen sind, sehr, sehr gering".
Das Bundesumweltministerium (BMUV) und das Bundesamt für Strahlenschutz betonten, Deutschland verfüge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS. "Sollte das BMUV Hinweise haben, dass sich ein radiologischer Notfall mit erheblichen Auswirkungen in der Ukraine ereignet, würde das radiologische Lagezentrum des Bundes im BMUV die Lage bewerten, die Öffentlichkeit informieren und, soweit erforderlich, Verhaltensempfehlungen geben."
Aus Sorge vor unbeabsichtigten Konfrontationen zwischen Einheiten der Nato und Russlands richtete das US-Verteidigungsministerium eine neue Hotline mit Moskau ein. Ziel sei es, Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalationen zu vermeiden. Die Nato selbst will keine Truppen in die Ukraine schicken, fürchtet aber, dass der Konflikt auf ihre Mitgliedstaaten übergreifen könnte.
"Die kommenden Tage werden wahrscheinlich noch schlimmer sein, mit mehr Tod, mehr Leid und mehr Zerstörung", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Treffen der Nato-Außenminister in Brüssel. Mit Blick auf das östliche Bündnisgebiet ergänzte er: "Wir erwägen nun ernsthaft eine erhebliche Verstärkung unserer Präsenz - mit mehr Truppen, mit mehr Luftverteidigung, mehr Abschreckung."
Um eine Flugverbotszone durchzusetzen, müssten Kampfjets der Nato im ukrainischen Luftraum russische Flieger abschießen, gab Stoltenberg zu bedenken. Ein solcher Schritt könne zu einem großen Krieg in ganz Europa führen und sei daher trotz der verständlichen Verzweiflung in der Ukraine ausgeschlossen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz schloss bei einem Besuch des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr ein Eingreifen der Nato in den Krieg kategorisch aus.
Aussicht auf ein baldiges Ende des russischen Angriffskriegs besteht kaum, zumal keine Konfliktpartei von ihren Forderungen abrücken will. Kremlchef Wladimir Putin ließ nach einem Telefonat mit Scholz wissen, vor Friedensgesprächen müssten zunächst "alle russischen Forderungen erfüllt werden" - eine "Demilitarisierung" und "Denazifizierung" der Ukraine, ein neutraler, nicht-nuklearer Status des Nachbarlandes sowie die Anerkennung der Krim als russisches Territorium und eine Souveränität der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak betonte, man werde keine harten russischen Forderungen erfüllen und "keinerlei Zugeständnisse eingehen, die auf die eine oder andere Weise unseren Kampf herabwürdigen, der heute in der Ukraine um ihre territoriale Unversehrtheit und die Freiheit geführt wird". Schlechte Vorzeichen für die dritte Verhandlungsrunde, zu der Delegationen beider Seiten am Wochenende - vermutlich in Belarus - zusammenkommen wollen.
Die russischen Truppen setzen nach ukrainischen Armeeangaben ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew fort. "Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews", hieß es. Die Millionenstadt erlebte am Freitag mehrmals Luftalarm. Alle Bewohner sollten sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit bringen.
Die Nato wirft den russischen Streitkräften den Einsatz von Streubomben und anderen Waffenarten vor, die gegen das Völkerrecht verstoßen. EU-Kommissionspräsidentein Ursula von der Leyen prangerte an, auch zivile Ziele würden zunehmend mit Bomben und Raketen attackiert. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte, die russischen Truppen gingen vor, "als wollten sie die Ukraine zerstören". Beschossen würden Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Infrastruktur.
Russland streitet den Beschuss ziviler Ziele kategorisch ab. Nach UN-Angaben war allein schon bis zur Nacht auf Freitag der Tod von 331 Zivilisten dokumentiert, darunter 19 Kinder. Zu befürchten sind noch höhere, schwer zu überprüfende Opferzahlen in der Zivilbevölkerung - zusätzlich zu den vielen getöteten Soldaten auf beiden Seiten.
Der UN-Menschenrechtsrat bestellte eine Untersuchungskommission, die Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine untersuchen und dokumentieren soll. Sie soll auch Verantwortliche benennen, um sie vor Gerichten zur Rechenschaft ziehen zu können. Umgekehrt wirft Russland der ukrainischen Führung seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Donbass vor und hat dazu eine Materialsammlung mit teils kaum überprüfbaren Informationen zusammengestellt.
Bundeskanzler Scholz rief Putin in ihrem einstündigen Telefonat zur sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen auf. Außerdem verlangte der SPD-Politiker, Zugang für humanitäre Hilfe in den umkämpften Gebieten zuzulassen, wie sein Sprecher mitteilte. Die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Menschen beläuft sich nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) inzwischen auf 1,25 Millionen. Die Bundespolizei sprach am Freitag von insgesamt knapp 20 000 offiziell registrierten Flüchtlingen in Deutschland.
Putin unterzeichnete am Freitagabend mehrere Gesetze zur weiteren Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Russland, mit denen unabhängige Medienberichterstattung weiter beschnitten wird. Bis zu 15 Jahre Haft drohen demnach für die Verbreitung von "Falschinformationen" über die russischen Streitkräfte. Strafen drohen auch jenen, die öffentlich die Armee "verunglimpfen".
Die BBC stoppte daraufhin jede Form von Berichterstattung auf russischem Gebiet. "Diese Gesetzgebung scheint den Prozess des unabhängigen Journalismus zu kriminalisieren", erklärte BBC-Generaldirektor Tim Davie. Die Medienaufsicht in Moskau blockierte auch Facebook und Twitter, nachdem schon der Zugriff auf andere soziale Netzwerke unterbunden wurde. Die meisten unabhängigen Medien sind inzwischen ebenfalls abgeschaltet oder blockiert.
KIEW/BERLIN (dpa-AFX)
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