11.08.2014 23:13:58

Mittelbayerische Zeitung: Sultan Erdogan - Der neue türkische Präsident führt das Land weit weg von der EU - hin zur autoritären islamischen Republik. Von Stefan Stark

Regensburg (ots) - Der neue Sultan der Türkei heißt Recep Tayyip Erdogan. Nach seinem Wahltriumph steuert der künftige Präsident auf eine Machtfülle zu, die es seit dem Osmanischen Reich nicht mehr gegeben hat. Darüber jubeln jedoch nicht nur die Anhänger des starken Mannes am Bosporus. Pikanterweise ist Erdogans Sieg auch für jene 70 Prozent der Bundesbürger ein Grund zum Feiern, die laut Umfragen einen türkischen EU-Beitritt entschieden ablehnen. Denn mit dem Erfolg des islamischen Staatschefs dürfte sich die Türkei noch weiter von Europa entfernen. Die türkischen Wähler haben Erdogan belohnt für die prosperierende Wirtschaft. Der seit einem Jahrzehnt währende Aufschwung mit zeitweise märchenhaften Wachstumsraten ist gewiss ein Verdienst des AKP-Chefs. Unter Erdogan ist eine wohlhabende Mittelschicht entstanden, die wieder stolz auf ihr Land ist. Dass Millionen Türken nach wie vor für Hungerlöhne und unter skandalösen Arbeitsbedingungen schuften müssen, wurde bei dieser Wahl von der Mehrheit ausgeblendet. Denn viele glauben weiter, dass Erdogans Wohlstandsversprechen auch ihnen irgendwann zu einem sozialen Aufstieg verhilft. Gleichzeitig haben sich die zahlreichen Konservativen ganz bewusst für einen starken Führer entschieden, der ihnen als Hüter der islamischen Ordnung gilt. Die Demonstranten vom Gezi-Park stehen nicht für eine landesweite türkische Bürgerrechtsbewegung. Sie sind der Ausdruck für eine tief gespaltene Gesellschaft. Auf der einen Seite die Liberalen und eher weltlich eingestellten Türken, die vor allem in Istanbul und einigen anderen Großstädten leben. Auf der anderen Seite die streng Konservativen und Religiösen auf dem Land. Die Präsidentenwahl war ein Votum für einen autoritären Staat und gegen demokratische Freiheiten. Sie war ein Ausdruck dafür, dass die Aussicht auf ein paar Lira mehr in der Gelbörse der Mehrheit wichtiger ist als etwa die Zensur des Internets. Ein Übriges dürften bei vielen unentschiedenen Wählern die Kriege und Krisen in gleich drei Nachbarstaaten geleistet haben. Rund um die Türkei donnern die Kanonen: in Syrien, im Irak und in der Ostukraine. Angesichts dieser gefährlichen Brandherde wollten die Türken keine politischen Experimente wagen. Mit Erdogans Wahlsieg steht das Land vor einem Zeitenwechsel. In seiner Siegesrede hat er von einer "neuen Türkei" gesprochen. Was genau er darunter versteht, wird sich bald zeigen. Es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass der Machtmensch Erdogan sich wie sein Vorgänger mit repräsentativen Aufgaben begnügt. Immerhin kann er sich darauf berufen, dass er direkt vom Volk gewählt wurde. Falls Erdogan an seinem alten Kurs festhält, wird er dieses Mandat für einen radikalen Umbau des politischen Systems nutzen. Er wird das Präsidentenamt so gestalten, dass es ihm eine nahezu unbegrenzte Machtfülle garantiert. Und wenn nicht auf Lebenszeit, dann - so hat Erdogan es selbst angekündigt - mindestens bis 2023, wenn die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Dieses Datum ist auch insofern interessant, weil Staatsgründer Kemal Atatürk damals Staat und Religion voneinander trennte. Heute sieht es so aus, als ob Erdogan im Zuge seiner schleichenden Islamisierung das Rad zurückdreht. Die Debatte über ein Lachverbot für Frauen in der Öffentlichkeit oder die Diskussion über "islamische Strände" in Ferienorten mögen im Westen nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen. Für die türkische Gesellschaft geben sie aber sehr wohl die Richtung vor, wohin die Reise mit Erdogan gehen soll. Mit dem neuen Sultan befindet sich das Land auf dem besten Weg zur autoritären islamischen Republik - und weit weg von der EU.

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