23.08.2018 19:43:44
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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur politischen Lage in Italien: "Tanz in den Abgrund" von Julius Müller-Meiningen
Regensburg (ots) - Italien ist der traurige Protagonist dieses
Sommers. In einer Schlucht in Kalabrien wurden am Montag zehn
Wanderer Opfer eines unerwartet starken Regenfalls. Eine Woche zuvor
starben 43 Menschen beim Einsturz einer Autobahnbrücke in Genua. Seit
bald drei Monaten ist eine neue Regierung im Amt, die vor allem durch
schockierende Auftritte besticht. Sie weist Migranten, die über das
Mittelmeer flüchten, in italienischen Häfen ab. Nach dem Einsturz der
Autobahnbrücke surft die Regierung auf einer Welle der Empörung, die
das Land durchzieht. Bevor die Unglücksursache festgestellt ist,
haben die Minister von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega die Schuldigen
bereits in der Investoren-Familie Benetton ausgemacht, die die
Aktienmehrheit an der Autobahn-Betreibergesellschaft hält.
Innenminister Matteo Salvini, der Mann, der maßgeblich die ultraharte
Asylpolitik verantwortet, zeigte sein besonderes Talent als
Lippenleser der Massen, als er die Sparpolitik der EU für den
Brückeneinsturz mitverantwortlich machte. Je unbeliebter und
ungreifbarer die mutmaßlichen Verantwortlichen sind, desto schneller
werden sie in Italien zu Schuldigen abgestempelt. Die Tendenz ist
eindeutig: Nicht nur Flüchtlinge, vor deren Zustrom sich viele
Menschen fürchten, sollen mit immer radikaleren Methoden abgewehrt
werden. Auch die Verantwortung für viele Missstände wird kollektiv
abgeschoben. Die Regierung verstärkt nur einen Effekt, der auch im
Kleinen etabliert ist. Selten erkennen die Menschen die Ursache für
Missstände bei ihnen selbst, es ist viel einfacher, die oft
ungreifbaren Institutionen oder andere für die Versäumnisse
verantwortlich zu machen. Im Fall der ertrunkenen Wanderer in
Kalabrien wurden schon am Tag nach dem Unglück Stimmen laut, die
mangelnde Umsicht der Behörden beklagten. Im Fall der Autobahnbrücke
nutzt die erst seit drei Monaten amtierende Regierung ihren
Newcomer-Status skrupellos aus. Deshalb zeigt sie voreilig mit dem
Finger auf die vermeintlichen Schuldigen. In ein paar Jahren, sollte
das Bündnis überhaupt noch im Amt sein, wäre diese unverantwortliche
Haltung nicht mehr möglich. Das sind die Zukunftsaussichten für
Populisten, die Kapital aus den Versäumnissen der Vergangenheit
schlagen wollen. Die italienische Regierung befindet sich noch im
Honeymoon mit ihren Wählern. Man muss kein Hellseher sein, um das
Ende der Romanze vorauszusehen. In Italien sind die Folgen dieser
Kurzsichtigkeit besonders gut zu beobachten. In großen Teilen der
Bevölkerung haben Pessimismus, Enttäuschungen, Angst und eine latente
Aggressivität spürbar zugenommen. Schuld sind immer die anderen. Das
gilt auch für die italienischen Staatsfinanzen. Das Land ächzt
bekanntlich unter einer Staatsschuld von rund 2,3 Billionen Euro. Im
Turnus wird das abstrakte Gebilde der EU für die finanzielle Not der
Staatskassen verantwortlich gemacht, obwohl etliche nationale
Regierungen mit horrender Staatsverschuldung ihr Land und den
Kontinent sehenden Auges ins Dilemma manövrierten. Seither dreht sich
die Diskussion ohne Ergebnis im Kreis. Soll die Wirtschaft mit
zusätzlichen Staatsausgaben angekurbelt werden oder kann der
Schuldenberg durch Sparmaßnahmen langsam abgebaut werden? Im Zuge der
türkischen Währungskrise ist auch wieder von Italien als finanzieller
Achillesferse der Euro-Zone die Rede. Das bestimmende, auf
ununterbrochenem Wachstum basierende Wirtschaftsmodell bekommt in
Italien seit Jahren seine selbstmörderischen Aspekte im Spiegel
vorgehalten. Es ist zu einfach, auf die unverantwortlichen Südländer
zu zeigen, die angeblich auf Pump leben. Dass die Verantwortung über
die Landesgrenzen hinaus geht, zeigt schon die Tatsache, dass ein
Kollaps der italienischen Staatsfinanzen europaweite Folgen hätte.
Wir sitzen im selben Boot, klagen uns aber gegenseitig an. Die
Finanzpolitik gibt keine glaubwürdigen politischen Antworten auf
diese Misere. Manchmal hat man den Eindruck, nur der Zusammenbruch
könnte heilende Wirkung entfalten. Andernfalls scheint der Druck zur
Veränderung zu gering.
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