09.06.2014 18:26:58
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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zu EU/Juncker
Regensburg (ots) - Wenn man so will, hat Europa ein Geburtstrauma
mit auf den Weg bekommen. Der Name Europa leitet sich bekanntlich von
einer Figur aus der griechischen Mythologie ab, einer Königstochter,
die nichtsahnend von Zeus in Gestalt eines Stiers entführt wird. Kein
gutes Omen also, zumal sich das Trauma bestätigt: Wer sich heute,
mehr als zwei Wochen nach der Europawahl, das Geschachere um den
Posten des Kommissionspräsidenten ansieht, muss erkennen, dass Europa
einmal mehr Faustpfand geworden ist. Zwar nicht von einem Stier, aber
dennoch von ziemlich gewichtigen und ziemlich halsstarrigen
Staatenlenkern. Ein unwürdiges Spiel. Die EU ist wieder einmal im
Krisenbekämpfungsmodus. Diesmal geht es nicht um die Währung oder die
Wirtschaft. Es geht um nichts anderes als die Macht. Wer hat in
diesem Staatenverbund das Sagen: Das Parlament oder die Staats- und
Regierungschefs? Erstmals bei einer Europawahl hatten die Bürger die
Möglichkeit, für einen Spitzenkandidaten zu stimmen. Ob sie alle
davon wirklich wussten, sei dahingestellt. Aber die Abmachung
lautete: Diejenige Partei mit der stärksten Fraktion im
Europaparlament soll den nächsten Kommissionspräsidenten stellen.
Doch festgehalten ist das Verfahren im Lissabon-Vertrag anders: Der
Europäische Rat, also das Gremium der Mitgliedsstaaten, benennt den
Kandidaten und soll dabei das Wahlergebnis berücksichtigen. Das war
den wenigsten Wählern klar. Zumal "berücksichtigen" ganz offenbar
unterschiedlich interpretierbar ist. Das Parlament, das den
Kommissionspräsidenten am Ende wählen muss, hat sich an die Abmachung
gehalten und sich hinter Juncker gestellt; der Rat streitet noch. Der
britische Premier David Cameron drohte sogar mit einem Austritt aus
der Gemeinschaft. Auch Angela Merkel bekannte sich erst nach langem
Zögern zu Juncker. Was als Durchbruch für mehr Demokratie und
Offenheit in der EU gedacht war, verkommt letztendlich wieder zum
Posten-Poker: In Hinterzimmerrunden verhandelte die Kanzlerin seit
Pfingstmontag mit den Juncker-Gegnern Cameron, dem niederländischen
Regierungschef Mark Rutte und seinem schwedischen Kollegen Fredrik
Reinfeldt über eine Personalie, von der die Wähler dachten, sie
hätten sie mit ihrem Kreuz mitentschieden. Wer heute über mangelndes
Interesse an Politik, über sinkende Wahlbeteiligungen oder den Erfolg
von Populisten jammert, die alles versprechen, aber nichts ändern,
der hat Recht. Wenn der Klagende aber selbst Politiker ist, sollte er
aufhören zu jammern und sich überlegen, warum das so ist. Wahlen sind
Auftragsvergaben. Parteien machen Angebote, Wähler stimmen ihnen zu.
Das Problem ist: Bei Lieferverzug hat der Wähler kein Druckmittel.
Die Währung, mit der er zahlt, heißt Vertrauen. Er kann dieses
Vertrauen einer Partei entziehen, was dazu führen kann, dass sie aus
den Parlamenten fliegt. Oder auch nicht. Aber eben weil der Auftrag
der Wähler ein Geschäft auf Vertrauensbasis ist, ist der Auftrag umso
wertvoller. Wer Vertrauen verspielt, schadet vielleicht nicht
unmittelbar sich selbst. Aber der Institution, für die er arbeitet -
und damit immer auch dem Glauben an den Wert und die Verlässlichkeit
der Demokratie. Egal wie und wann auch immer ein Kommissionspräsident
gefunden sein wird: Diese Wahl und das Geschachere um den
Spitzenposten hat der Europäischen Union Schaden zugefügt. Europa
zeigt sich heute nicht als schöne Königstochter, sondern als
Frankenstein-ähnliches Gebilde, das aus widerstrebenden Teilen
zusammengeschustert worden ist. Gemein mit der Mythenfigur ist nur
das Entführtsein: entführt aus dem Zugriff und dem Verständnis der
Wähler.
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