10.09.2017 21:43:56

Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu Türkei/Reisewarnung

Regensburg (ots) - Haltet den Dieb!

von Reinhard Zweigler, MZ

Ein Trick, um vom eigenen Diebstahl abzulenken, ist auf einen anderen zu zeigen und laut zu schreien: Haltet den Dieb! Diesen plumpen Trick versucht nun auch das türkische Außenministerium. Es gab am Wochenende allen Ernstes Reisewarnungen für Deutschland heraus. Türken sollten sich nicht auf politische Debatten einlassen und Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland meiden. Wenn die Angelegenheit nicht so ernst wäre, man könnte über so viel Unverfrorenheit lachen. Doch es ist kein Witz. Die türkische Regierung, die offenbar derzeit nicht an einer Verbesserung des Verhältnisses zu Berlin interessiert ist, dreht die wirklichen Verhältnisse einfach um. Türken seien in Deutschland bedroht, wenn sie sich politisch äußerten. Doch das ist absurd. Nicht türkische Journalisten werden hierzulande in Untersuchungshaft genommen, ohne Anklage festgehalten und von Strafen bedroht, sondern es sitzen mehr als zehn deutsche Journalisten und Menschenrechtler in türkischen Gefängnissen. Der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel musste seinen 44. Geburtstag hinter Gittern verbringen. Die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu lebt mit ihrem zweijährigen Sohn in einer Gefängniszelle. Und der Berliner Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner wurde nach einem Seminar in Istanbul inhaftiert. Die Willkür von türkischer Polizei und Justiz kann allerdings auch ganz normale Touristen treffen. Es genügt der vage Hinweis auf eine Nähe zum Prediger Fethullah Gülen. Dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor nicht all zu langer Zeit noch mit Gülens islamischer Bewegung paktierte, ist längst vergessen. Das innere Feindbild für den Möchtegern-Sultan Erdogan heißt Gülen, das äußere heißt Deutschland. In der Türkei lässt der mächtige Präsident Verwaltungen, Universitäten, Justiz und Militär in einem Ausmaß "säubern", wie man das aus der Geschichte vielleicht nur vom sowjetischen Diktator Stalin in den 30er Jahren kannte. Unter Erdogan verloren Hunderttausende türkische Offiziere, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Professoren, Lehrer ihren Job. Tausende sitzen in Haft, wo sie kaum auf rechtsstaatliche Verfahren hoffen können. Der türkische Präsident ist drauf und dran, Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei vollends zu zertrümmern. Offenbar betrachtet er die inhaftierten Deutschen als eine Art Faustpfand: Liefert ihr nicht die Gülen-Anhänger aus Deutschland aus, die dort Asyl beantragt haben, dann werden auch die Journalisten nicht frei gelassen. Dass die Politik in Deutschland, zumal im Wahlkampf, zu den Entwicklungen in der Türkei nicht schweigen kann, liegt auf der Hand. Zu eng und zu vielfältig sind die Beziehungen beider Länder. Wer klare Kante gegen Erdogan zeigt, etwa den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen fordert, kann sich des Beifalls in Deutschland sicher sein. In der Tat reagiert Erdogan nicht auf Beschwichtigungen, sondern nur auf Härte, auf politischen und wirtschaftlichen Druck. Vor allem dann, wenn die EU-Staaten und die USA im Fall des komplizierten Militärpartners Türkei einheitlich vorgehen. Es ist falsch zu sagen, das Verhältnis Türkei-Deutschland befinde sich auf einem Tiefpunkt. Erdogan und seine willfährige AKP-Regierung graben jeden Tag tiefer. Gleichwohl braucht es in der Türkei-Politik kühlen Kopf. Auf manche Beleidigung aus Ankara sollte man gelassen oder gar nicht reagieren. Das ärgert den Macho Erdogan noch mehr. Doch gleichzeitig dürfen die Gesprächsfäden in die Türkei, die wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kontakte und der Tourismus nicht abgebrochen werden. Die Türkei ist so viel mehr als Erdogan.

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