22.10.2015 20:22:38
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Landeszeitung Lüneburg: "Angst löst nur das Nebulöse aus" - Interview mit Prof. Dr. Ulrich Wagner zum Thema Flüchtlinge
Wurde in einem Jahr Pegida die Drachensaat gesät, die am Wochenende mit dem Attentat auf Kölns OB-Kandidatin Reker aufging?
Prof. Dr. Ulrich Wagner: Viele Bürger, die von der Einwanderung verunsichert sind, erhoffen sich von der Pegida Antworten - übersehen dabei, dass diese nur scheinbare Antworten liefert. Der Zuspruch zu Pegida war ja bereits stark zurückgegangen, doch seit dem Sommer, seit der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen, haben die Vereinfacher wieder Konjunktur. Zugleich werden die Positionen der Organisatoren und Redner deutlich extremer - wie etwa bei der verheerenden Rede von Akif Pirinçci zu sehen war. Und das ist eine Situation, in der sich einige Anhänger ermuntert fühlen können, die Botschaft von Pegida in eine Tat umzumünzen. Und das ist offensichtlich in Köln geschehen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Pegida und dem Attentat, der ist aber komplizierter als eine einfache kausale Verbindung.
Die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsheime ist stark gestiegen. Wächst der Fremdenhass in der Breite oder radika-lisiert sich eine Minderheit?
Prof. Wagner: Das wissen wir nicht. Es gibt keine Untersuchungen zu dieser Frage. Allerdings ziehen die vermeintlich klaren Antworten der Pegida auf die Verunsicherung auslösende Zuwanderung auch Menschen in den Bann, die nicht zur extremen Rechten zu zählen sind. Zu vermuten ist, dass beides stattfindet: Dass sich die fremdenfeindlichen Rechten radikalisieren und dass sich fremdenfeindliche Ideen in der politischen Mitte ausbreiten. In der Folge sind die Übergänge zwischen beiden Gruppen sind fließend.
Wovor hat der biedere Beamte Angst, der gegen das Flüchtlingsheim in seiner Nachbarschaft Brandsätze schleudert?
Prof. Wagner: Die Ängste wurzeln in der Erwartung, dass materielle Konkurrenz erwächst, dass etwa künftig Plätze in der Schule und im Kindergarten fehlen. Aber es geht auch um den Lebensstil, um das Gefühl kultureller Sicherheit. Hierbei zeigt sich, dass diejenigen die größten Befürchtungen hegen, die die wenigsten Erfahrungen mit Fremden haben. Deshalb ist die Pegida-Bewegung vor allem im Osten erfolgreich, deshalb gibt es in den östlichen Bundesländern deutlich mehr Brandanschläge auf Flüchtlingsheime. Die Angst entsteht nicht, wenn etwas klar sicht- und interpretierbar vor Augen steht, sondern sie entsteht vor dem Nebulösen, vor dem, was vielleicht kommen könnte. Es ist eine menschliche Eigenschaft, darauf Antworten zu suchen, bevorzugt leichte, die uns gut in den Kram passen.
Stichwort menschliche Eigenschaft: Ist Misstrauen gegenüber Fremden eine anthropologische Konstante und von daher schwer zu überwinden?
Prof. Wagner: Nein, denn wir kennen alle das Phänomen, dass wir auf kulturell Neues mit großer Neugierde und Begeisterung zugehen - etwa im Urlaub. Die Kombination von Neuem mit diffuser Bedrohlichkeit entsteht durch Fernsehbilder, Nachrichten und nicht zuletzt durch Sprache. Wer von einer "Flüchtlingswelle" spricht, unterstreicht den bedrohlichen Charakter.
Gibt es neben dem Ost-West-Gefälle beim Ablehnungspotenzial auch ein Stadt-Land-Gefälle?
Prof. Wagner: Ja, und auch das wurzelt - so haben unsere Forschungen ergeben - in den unterschiedlichen Möglichkeiten der Menschen, Erfahrungen mit dem Fremden zu machen. In den Regionen, in denen der Migrantenanteil niedriger ist, ist zugleich die Fremdenfeindlichkeit ausgeprägter. Da der Anteil Zugewanderter in der Stadt größer ist als auf dem Land, gibt es hier auch ein Akzeptanzgefälle. Wobei an dieser Stelle genau der Punkt wäre, nicht nur über mögliche Nachteile der Zuwanderung zu reden, sondern über ihre Vorteile. So könnten sich gerade für den ländlichen Raum aus der Migration positive Effekte für die ansässige Bevölkerung ergeben. In einigen friesischen Gemeinden könnte etwa der Zuzug von Flüchtlingsfamilien Grundschulen vor der Schließung retten, die angesichts der demographischen Entwicklung und dem Mangel an Kindern bereits ansteht. Das Gleiche gilt für Tante-Emma-Läden vor Ort, denen bei fortgesetzter Abwanderung die Kunden fehlen.
Wie sind aber Aktionen zu werten wie die Unterbringung von 1000 Flüchtlingen in einem 100-Seelen-Dorf, einfach, weil dort ein leerstehendes Bürodorf zur Verfügung stand?
Prof. Wagner: Das ist ein gutes Beispiel für den jetzt bestehenden Zwang, mit den Ängsten umzugehen. Als Merkel sagte: "Wir schaffen das!", war dies zu diesem Zeitpunkt das richtige Signal, um Zuversicht zu verbreiten. Die Diskussion, die wir momentan führen, ist dagegen irreführend. Die Vorstellung, die Grenzen zu schließen und damit wäre das Problem gelöst, ist abwegig. Eine Abschottung ist weder juristisch durchsetzbar, noch praktikabel. Wie wäre es denn, wenn auf unseren Fernsehern Bilder liefen von Kindern, die vor deutschen oder europäischen Grenzzäunen verhungern? Weil dies völlig undenkbar ist, erscheint mir die derzeitige Diskussion um Grenzzäune verlogen. Man darf den Menschen nicht mit untauglichen Argumenten vormachen, man könnte die Ursachen dieser Angst beseitigen. Deshalb ist meine Forderung an die Berliner Politik, dass etwas für die Menschen Spürbares passieren muss. Der Umgang mit dem Flüchtlingsproblem muss effektiver und professioneller werden. Das fängt bei der Unterbringung an: Zelte müssen angesichts des nahenden Winters tabu sein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss endlich eine zügige Registrierung umsetzen, damit Erstaufnahmeeinrichtungen nicht mehr so überlaufen sind. Auf lange Sicht dürfen Flüchtlinge auch nicht Turnhallen belegen, weil sonst eine spürbare Konkurrenzsituation entsteht. Wenn die Bürokratie hier die richtigen Antworten findet, wird Pegida der Boden entzogen.
Zeigen die Willkommenskultur und die klare Kante der Kanzlerin auf der anderen Seite, dass die Gesellschaft aus den 90er-Jahren gelernt hat, als fremdenfeindliche Anschläge von Kanzler Kohl mit dem Spruch abgetan wurden, Deutschland sei ein ausländerfreundliches Land?
Prof. Wagner: Da hat sich tatsächlich etwas verbessert. Damals gab es zwar Lichterketten, um Asylbewerberheime zu schützen, aber keine derartig große Hilfsbereitschaft - nicht mal gegenüber den Bürgerkriegsopfern vom Balkan. Die jüngste Welle der Hilfsbereitschaft hat auch Menschen, die nicht zu patriotischen Gefühlen neigen, stolz auf Deutschland gemacht. Aber: Jetzt ist es an der Zeit, den alltäglichen Umgang mit Flüchtlingen in normale Bahnen zu lenken.
Nimmt Horst Seehofer als verantwortungsvoller Politiker die Ängste seiner Wähler ernst oder instrumentalisiert er sie nur für eigene Zwecke und macht so die Parolen der Populisten hoffähig?
Prof. Wagner: Es ist zwar richtig, dass Seehofer die Ängste seiner Wähler aufnimmt und auf Probleme vor Ort hinweist. Aber seine Forderungen sind insofern populistisch, als seine Vorschläge nicht funktionieren. "Grenzen dicht" hält die Menschen nicht auf. Genauso gut könnten wir verlangen, den Klimawandel abzuschaffen. Seit langem war klar, dass Kriege, der Export von Armut von Europa in die Welt und der Klimawandel neue Wanderungsbewegungen auslösen werden. Jetzt sind sie da. Abblocken lassen sie sich nicht. Eine solche Forderung soll nur seine unionsinterne Stellung stärken.
Was ist die größte Herausforderung für uns als Aufnahmegesellschaft?
Prof. Wagner: Dass wir die Diskussion darüber führen, wie wir uns als Aufnahmegesellschaft aufstellen wollen. Bisher haben wir darüber diskutiert, wie wir das physische Überleben der Flüchtlinge sicherstellen. Die Aufgaben entsprachen denen des Katastrophenschutzes bei einem Hochwasser. Jetzt sind wir aber an dem Punkt, überlegen zu müssen, was bedeutet es für Deutschland, Menschen aus fremden Kulturen aufzunehmen, was bedeutet es für unser Selbstverständnis, aber auch, welche Vorteile bringt uns das? Entsprechende Planungen etwa im Bereich Ausbildung vorausgesetzt, könnte sich beispielsweise der aus der demographischen Entwicklung abzuleitende Pflegenotstand verhindern lassen.
Die Hauptlast tragen derzeit die Kommunen. Welche Möglichkeiten haben sie, die Ängste der Bürger zu entkräften?
Prof. Wagner: Auf kommunaler Ebene entstehen eine Reihe von Aufgaben. Die Zuständigkeit für die Erstaufnahme ist oft auf unterschiedliche Instanzen verteilt: Mittelbehörden stellen beispielsweise die Zelte, die Kommunen sorgen für Sicherheit, das Rote Kreuz stellt die Suppenküche. Das muss in eine Hand kommen, sonst kommt es bei der Organisation solcher Erstaufnahmeeinrichtungen zu Brüchen. Wir haben zuletzt oft darüber diskutiert, warum es in Flüchtlingsunterkünften zu Gewalt kommt - das ist schlicht die Folge, wenn Menschen über Monate nur vier Quadratmeter zur Verfügung haben. Die Einsicht, dass wir nicht nur eine physische Unterstützung leisten müssen, sondern auch eine soziale, muss sich weiter durchsetzen. Das funktioniert aber nicht, wenn die Einzelaufgaben einfach addiert werden, ohne dass jemand für das Ganze verantwortlich ist. Die Bürgermeister sind zudem in der Pflicht, die Flüchtlingsunterkünfte in die lokale Bevölkerung einzubinden - etwa über entsprechende Angebote. Die Geflüchteten müssen sozial eingebunden werden, ebenso müssen die Einheimischen in die Situation der Geflüchteten eingebunden werden.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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Pressekontakt: Landeszeitung Lüneburg Werner Kolbe Telefon: +49 (04131) 740-282 werner.kolbe@landeszeitung.de
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