04.03.2017 15:07:41
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HINTERGRUND: Später in Hartz IV: Ende der Gerechtigkeitslücke oder 'süßes Gift'
NÜRNBERG (dpa-AFX) - Die Debatte ist so alt wie die Hartz-Reformen - und sie entbrennt alle paar Jahre neu. Mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat die Frage des Umgangs mit älteren Arbeitslosen neue Aktualität erhalten. Der 61-Jährige hatte Mitte Februar auf einer Arbeitnehmerkonferenz in Bielefeld für gezielte Änderungen bei der Agenda 2010 plädiert. Im Gespräch ist etwa eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. An diesem Montag will Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) als zuständige Leiterin der Wahlprogramm-Arbeitsgruppe der SPD ihre Vorschläge präsentieren.
Schulz argumentiert: "Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten und ihre Beiträge gezahlt haben und zahlen, haben ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie - oft unverschuldet - in große Probleme geraten."
Dass Arbeitslosigkeit im Alter ein Problem ist, das sieht auch Ulrich Walwei so. "Das ist eine durchaus ernste Frage." Deshalb hat der stellvertretende Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auch Verständnis dafür, dass Politiker wie Schulz solche Fragen thematisieren. Den Betroffenen helfe man aber nicht mit einer "Alimentierung", sondern mit Fortbildung und geeigneten Jobangeboten.
Generell sehen Arbeitsmarktforscher das Herumschrauben am System der Arbeitslosenversicherung skeptisch. Sie warnen davor, allzu unbedacht an Stellschrauben zu drehen, die die sensible Balance zwischen auskömmlichem Arbeitslosengeld und einem angemessenen Anreiz zur Jobsuche stören könnten. Den 2007 erzielten Kompromiss, mit dem Union und SPD eine Verlängerung der Bezugsdauer für Ältere auf bis zu 24 Monaten vereinbarten, hält man etwa beim IAB, der Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit, gerade noch so für akzeptabel.
"Denn nahezu alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen: Wer einen längeren Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, ist meist auch länger arbeitslos", macht IAB-Wissenschaftler Walwei deutlich. Und lange Arbeitslosigkeit sei nun mal ein Risikofaktor: Mit jedem Monat zusätzlicher Erwerbslosigkeit sinke die Chance, eine angemessene Stelle zu finden. Er hatte daher schon 2007 im Zusammenhang mit der seinerzeit diskutierten Verlängerung des Arbeitslosengeldes von "Süßem Gift" gesprochen.
Erfahrungen vor der 2005 in Kraft getretenen Hartz-IV-Reform zeigten zudem: Die bis dahin geltende Bezugsdauer von bis zu 32 Monaten hatten viele Ältere als Möglichkeit eines vorgezogenen Ruhestandes genutzt - oft mit Unterstützung von Unternehmen, die sich auf Kosten der Sozialkasse älterer und vergleichsweise teurer Beschäftigter entledigten. IAB-Untersuchungen zeigten, dass diese Entwicklung mit der verkürzten Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I abgebremst wurde.
Befürworter von Schulz' Vorschlag führen vor allem psychologische Aspekte ins Feld, wie etwa der Wirtschaftsexperte Peter Bofinger: Die Aussicht, schon nach zwölf- oder achtzehnmonatiger Arbeitslosigkeit mit Hartz IV "ins Bodenlose zu stürzen, empfinden viele Menschen als große Belastung", sagte das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" unlängst in einem Interview.
Dass es bei dieser Argumentation anscheinend weniger um die Masse der Hartz-IV-Bezieher geht, sondern eher um abstiegsbedrohte Mittelschichtler, zeigen Zahlen der Bundesagentur: Danach kommen Arbeitslose, die in ihrem letzten Job schlecht verdient haben, manchmal mit dem Arbeitslosengeld II (Hartz IV) besser über die Runden als mit Arbeitslosengeld I, das 60 Prozent des Nettolohns beträgt.
Der durchschnittliche Arbeitslosengeld-I-Betrag lag im November 2016 bei 992 Euro. Ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher bringt es derzeit im Monat auf 409 Euro; samt der vom Jobcenter übernommenen Wohnkosten ist häufig der Abstand zum Arbeitslosengeld 1 nicht mehr allzu groß. Mit Frau und einem Kind, kommt er - ohne Wohnkosten - sogar auf mehr als 1000 Euro.
Finanziell sollte eine verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für die Bundesagentur, so scheint es, kein Problem zu sein. Denn die Nürnberger sitzen derzeit auf einer Rücklage von elf Milliarden Euro. IAB-Forscher Walwei sieht das freilich anders. Überschüsse, die die BA in Boomzeiten erwirtschafte, seien notwendig, um in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten ohne Beitragserhöhungen angemessen reagieren zu können - etwa mit Kurzarbeitgeld-Programmen, wie nach der Finanzkrise 2008/2009.
Schließlich hat die Frage eines längeren Arbeitslosengeld-I-Bezugs auch eine verteilungspolitische Dimension: Wenn mehr Menschen länger ALG I beziehen, verringert sich zugleich die Zahl der Hartz-IV-Bezieher. Und damit müssen die Beitragszahler länger für die Versorgung der Jobsucher aufkommen, statt diese Aufgabe dem Bund - und damit allen Steuerzahlern - zu übertragen./kts/DP/stk
---Von Klaus Tscharnke und Basil Wegener, dpa---
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