18.07.2020 00:32:00

Ernüchterung nach erstem Tag des EU-Finanzgipfels

Der erste EU-Gipfel seit fast einem halben Jahr ist am Freitag äußerst schleppend angelaufen. Mehr als zwölf Stunden an Verhandlungen brachten keine greifbare Annäherung im Ringen um das billionenschwere Finanzpaket, das der Union den Weg aus der Coronakrise weisen soll. Dem Vernehmen nach brachte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte den Gipfel sogar an den Rand des Scheiterns.

Rutte war mit der Maximalforderung nach Brüssel gereist, dass es ein nationales Vetorecht gegen die Ausschüttung von EU-Coronavirushilfen geben soll. Trotz einer geharnischten Reaktion des italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, der dem Vorschlag Europarechtswidrigkeit attestiert hatte, hielt der rechtsliberale Regierungschef auch beim Abendessen an der Forderung fest. Kurz vor Mitternacht vertagte sich der Gipfel auf Samstag, wie ein Sprecher von Ratspräsident Charles Michel auf Twitter mitteilte.

Für Aufsehen sorgte am Freitagabend auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), indem er noch einmal "ganz klar" seine Ablehnung des aktuellen Vorschlags für den EU-Wiederaufbaufonds, "der 500 Milliarden Euro an Zuschüssen vorsieht", formulierte. Kurz äußerte sich, nachdem er in einer Sitzungspause mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zusammengekommen war. In der "ZiB2" sprach er diesbezüglich von einer "Dynamik in unsere Richtung" und pochte auf "einschneidende Reformen" in Italien, damit die EU-Hilfsgelder nicht "versanden".

Michel hatte die Sitzung am späten Nachmittag unterbrochen, um Gespräche im kleinen Kreis zu ermöglichen. Neben Rutte traf er auch den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orb�n. Widerstand gegen das EU-Finanzpaket kommt nämlich nicht nur von der Nettozahlergruppe der "Sparsamen Vier", angeführt von den Niederlanden und Österreich, sondern auch von den Visegrad-Staaten. Diese stoßen sich an der Berechnungsformel für die Coronahilfen, aber auch am Plan, die Ausschüttung von EU-Geldern an die Erfüllung von Rechtsstaatskriterien zu knüpfen.

Mit mehr als einer Stunde Verspätung kamen die EU-Chefs nach 21 Uhr wieder in großer Runde zum Abendessen zusammen, das den ersten Gipfeltag beschließen sollte. Der maltesische Ministerpräsident Robert Abela sprach am Rande des Abendessens von nur langsamen Fortschritten. Noch pessimistischer hatte sich zuvor der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš geäußert. "Ich habe nicht das Gefühl, dass wir einer Einigung näher kommen", sagte er in der Sitzungspause. Er beklagte, dass nicht einmal das Volumen des EU-Coronafonds außer Streit sei, geschweige denn die Bedingungen.

Mit Spannung wurde den ganzen Tag lang auf einen neuen Kompromissvorschlag von Ratspräsident Michel gewartet. Dieser dürfte nun am Samstagvormittag präsentiert werden. Darauf deutete auch die Tatsache hin, dass die Beratungen erst um 11 Uhr wieder aufgenommen werden sollten. Die Delegationen sollen so offenbar die Möglichkeit bekommen, den neuen Entwurf zu prüfen.

Schon am Freitagabend zeichnete sich ab, dass Michel bereit war, auf die Bedenken von Ländern wie den Niederlanden bei der Auszahlung von EU-Hilfen aus dem Recovery Fonds einzugehen. Zwar ist nicht ausdrücklich von einem Veto die Rede, schreib das Magazin "Politico" (Online-Ausgabe) unter Berufung auf einen Entwurf des Michel-Papiers. Sollte aber im Rahmen des Wirtschafts-und Finanzausschusses der EU auf Beamtenebene kein Konsens erzielt werden, könne ein EU-Gipfel mit der Angelegenheit befasst werden. Bevor es keine Klärung gebe, würden keine Zahlungen fließen. Dies habe auch die EU-Kommission zugesagt, schrieb "Politico".

Ähnliches berichtete auch die Nachrichtenagentur Bloomberg sowie Journalisten der "Financial Times" und des irischen Rundfunksenders RT� auf Twitter. Die Lösung wurde als "Notbremse" charakterisiert, der dem niederländischen Premier Mark Rutte eine Zustimmung ermöglichen soll. Dieser ließ aber in den abendlichen Beratungen keine Bewegung erkennen und beharrte auf dem nationalen Vetorecht.

Michel hatte die Vertreter der 27 EU-Staaten gleich zum Auftakt die harten Brocken im Ringen um die EU-Finanzen serviert. Wie aus Diplomatenkreisen verlautete, ging es zu Beginn der Sitzung um die Frage der Rabatte für Nettozahler, die Größe des EU-Konjunkturpakets sowie die Bedingungen für Krisenhilfen. Michels Vorschläge sehen ein EU-Budget im Umfang von 1,074 Billionen Euro für die Jahre 2021 bis 2027 vor sowie ein kreditfinanziertes EU-Konjunkturpaket im Volumen von 750 Milliarden Euro, das zu zwei Drittel aus nicht rückzahlbaren Zuschüssen bestehen soll.

In die Verhandlungen eingebunden war auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), wie dessen Sprecherin der APA auf Anfrage bestätigte. Kogler, der im Ringen um die EU-Finanzen mehrmals öffentlich auf Distanz zu den Positionen des Kanzlers gegangen war, habe die Fragen des Gipfels im Vorfeld "besprochen und abgesprochen". Auch auf Kabinettsebene gebe es "laufend Abstimmung. Selbstverständlich ist der Vizekanzler auch am Wochenende für den Bundeskanzler erreichbar."

Aufgelockert wurde die erste Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs seit fast einem halben Jahr durch spontane Geburtstagsfeiern. So bekam die deutsche Kanzlerin Merkel Geschenke zu ihrem 66. Geburtstag, unter anderem mehrere Flaschen Weißwein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch der portugiesische Premier Ant�nio Costa nahm Glückwünsche zu seinem 59. Geburtstag entgegen. Frisch vermählt reiste die dänische Regierungschefin Mette Fredriksen nach Brüssel. Sie hatte ihre eigentlich für Freitag geplante Hochzeit auf Mittwoch vorverlegt.

Fast alle EU-Chefs hielten sich bei dem Treffen, das im größten Saal des Ratsgebäudes mit reduzierten Delegationen stattfand, an die Coronaregeln. Der bulgarische Premier Bojko Borissow wurde aber von Merkel gerüffelt, weil seine Nase aus der Maske hervorlugte. Michel hielt seine Treffen in der Sitzungspause unter freiem Himmel auf einer Terrasse des Ratsgebäudes ab.

(Schluss) vos/mhh

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