05.04.2022 18:29:42
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BIZ-Chef Carstens warnt vor neuer Inflationsära
Von Hans Bentzien
FRANKFURT (Dow Jones)--Die Zentralbanken weltweit müssen sich nach Aussage des Chefs der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Agustin Carstens, auf die Möglichkeit einer neuen Inflationsära einstellen. Die unerwartet rasche Erholung der entwickelten Volkswirtschaften von der Pandemie habe, gepaart mit einer womöglich zu lange expansiven Geld- und Finanzpolitik, die Grundlagen für eine erhöhte Inflation gelegt, die nicht so bald schwinden werde, sagte Carstens in einer Veranstaltung des International Center for Monetary and Banking Studies in Genf.
Carstens berührte in seiner Rede die Frage, warum Zentralbanken und andere Akteure die Inflation zu lange unterschätzt hätten und nannte drei Gründe, warum die Inflation wahrscheinlich nicht mehr auf ihr Vor-Corona-Niveau zurückfallen wird.
1. Inflationserwartungen beginnen sich zu lösen
"Am deutlichsten wird dies, wenn wir die kurzfristigen Erwartungen betrachten", sagte Carstens laut veröffentlichtem Redetext. Indikatoren der Erwartungen von Finanzmarktteilnehmern und professionelle Prognosen deuteten darauf hin, dass die Inflation in den USA und einem Großteil Europas in den nächsten zwei Jahren bei über 4-1/2 Prozent und in vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften bei über 3-1/2 Prozent liegen werde. Besonders die kurzfristigen Erwartungen der privaten Haushalte, die einen direkteren Einfluss auf Lohn- und Preisentscheidungen hätten, seien seit Mitte 2021 stark gestiegen.
Weniger deutlich, aber auch nicht beruhigend, findet der BIZ-Chef die Entwicklung der längerfristigen Inflationserwartungen. Auch hier verweist er auf die Erwartungen privater Haushalte, die im Median nicht beunruhigend, doch am oberen Ende der Verteilung stark gestiegen seien. "Wenn sich diese Tendenz ausbreitet, könnte es für die Zentralbanken sehr viel schwieriger werden, die Inflation zu senken", sagte Carstens.
2. Sektorale Preisänderungen wirken wieder direkter auf Inflation
Die über zwei Jahrzehnte sehr niedrige Inflation war nach Aussage des BIZ-Chefs auch dadurch gekennzeichnet, dass Preisänderungen in einem Sektor kaum Einfluss auf Preisentwicklungen in anderen Sektoren oder auf das gesamte Preisniveau hatten. Nun gibt es seiner Meinung nach aber in den USA Anzeichen dafür, dass dieser Link - wie zuvor in den 1970er Jahren - wieder aktiv wird. "Unter Berücksichtigung von Daten aus der Pandemiezeit steigt das geschätzte Ausmaß dieser Beeinflussung schnell und nähert sich dem Niveau, das für die Hochinflationszeit charakteristisch war", warnte Carstens.
3. Inflation spielt am Arbeitsmarkt wieder eine Rolle
Wenn die Inflation anfängt, sich auf die Lebenshaltungskosten im weiteren Sinne auszuwirken, wird es laut Carstens wahrscheinlicher, dass sie in den Mittelpunkt von Preis- und Lohnfestsetzungsentscheidungen rückt. "Dies könnte eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale auslösen", meint er. Es gebe erste Anzeichen dafür, dass das Lohnwachstum im vergangenen Jahr empfindlicher auf die Inflation reagiert habe - und sogar wieder statistisch signifikant geworden sei.
Die Zentralbanken stehen vor diesem Hintergrund Carstens zufolge vor der Aufgabe, ihre Denkweise zu ändern. Die Zeiten sehr niedriger Inflation, in denen Zentralbanken einen beispiellosen Spielraum hatten, sich um Ziele außerhalb ihres Kernmandats zu kümmern, gingen zu Ende. Überdenken müssten sie wohl auch ihren Umgang mit Preisanstiegen infolge von Angebotsproblemen.
"Diese werden in der Regel zunächst relative Preisänderungen auslösen", sagte der BIZ-Chef. Jüngste Erfahrungen zeigten aber, dass es schwierig sein könne, solche klaren Unterscheidungen zu treffen. Was zunächst vorübergehend aussehe, könne zu Verhaltensanpassungen führen, wenn die Entwicklung nur weit genug gehe und lange genug anhalte. "Es ist schwer festzustellen, wo diese Schwelle liegt, und wir finden es vielleicht erst heraus, wenn sie überschritten ist."
Carstens zufolge stehen die Zentralbanken nun vor der Aufgabe, ihre Zinsen dem geänderten Inflationsumfeld anzupassen, auch wenn das kurzfristig Wachstum und Beschäftigung kostet. "Höchstwahrscheinlich wird das dazu führen, dass die Realzinsen eine Zeit lang über das neutrale Niveau hinaus steigen müssen, um die Nachfrage zu dämpfen", sagte er.
Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com
DJG/hab/mgo
(END) Dow Jones Newswires
April 05, 2022 12:30 ET (16:30 GMT)
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