06.09.2015 18:12:46
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Berlin erntet Anerkennung und Kritik für Politik der offenen Arme
Von Bertrand Benoit und Nick Winning
BERLIN/LONDON (Dow Jones)-- Deutschlands offene Arme für und die effiziente Versorgung von mehreren tausend Flüchtlingen findet auch international höchste Anerkennung. Doch sowohl im Inland als auch im Ausland mehren sich auch die Stimmen, die der Politik der offenen Arme von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen der möglichen Signalwirkung auf andere Flüchtlinge sehr kritisch gegenüberstehen.Auch wenn die Kritik oft nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird: Sie könnte Berlin noch Schwierigkeiten bereiten, wenn die Euphorie der Begrüßungen vorüber ist und die Kanzlerin ihre Bemühungen wieder aufnimmt, für eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf ganz Europa zu werben.
Und die Kritik kommt nicht nur aus dem Ausland. Auch bei der Schwesterpartei CSU rumort es. Die Entscheidung der Bundeskanzlerin von Freitagnacht, Tausende von Flüchtlingen von Ungarn nach Österreich und Deutschland reisen zu lassen, "sendet das völlig falsche Signal innerhalb Europas", das korrigiert werden müsse, warnte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann am Samstag. Auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer kritisierte gegenüber der Bild am Sonntag die "falsche Entscheidung". Jetzt gelte es, den "massenhaften Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland zu stoppen", sagte er der Zeitung.
Auch rechtsgerichtete Parteien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren sich am Wochenende in ihrer Einschätzung einig: Berlins Politik der offenen Arme locke nur noch mehr Flüchtlinge nach Europa. Die von der Alternative für Deutschland abgespaltene neue Partei Alfa tritt für eine drastische Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme ein. Die Partei des früheren AfD-Chefs Bernd Lucke wehrte sich ausdrücklich gegen den Begriff der "Willkommenskultur" als naiv und illusorisch. Stattdessen spricht sich die Partei für eine "Hilfskultur" aus.
Und in Frankreich sagte die Führerin des ultrarechten Front National, Marine Le Pen, am Sonntag beim Jahrestreffen ihrer Partei: "Deutschland hat die passive Haltung Europas in der Krise mitzuverantworten. Wahrscheinlich denkt Deutschland an seine alternde Gesellschaft. Und das Land versucht offenbar, erneut niedrigere Löhne zu zahlen und Sklaven durch Massenimmigration zu rekrutieren."
Berlin verteidigt sich mit dem Verweis auf die unerhörte Not der Flüchtlinge, nachdem die Regierung in Ungarn ihre Versuche aufgab, die Menschen in Lagern abzuschirmen und sie zu Fuß in Richtung Österreich aufbrechen ließ. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nannte die Einreiseerlaubnis eine einmalige Ausnahmen und verwies darauf, dass die europäischen Asylregeln weiterhin gelten: Demnach müssen Asylsuchende ihren Antrag in dem europäischen Land stellen, in dem sie angekommen sind.
Dagegen wehren sich immer mehr Regierungen in Osteuropa, die das erste europäische Ziel auf der sogenannten "Balkanroute" darstellen. Ungarns Premierminister Viktor Orban gab Deutschlands Einwanderungspolitik und seinem großzügigen Wohlfahrtssystem die Schuld daran, dass immer mehr Flüchtlinge nach Europa kämen. Europas Problem mit den Flüchtlingen sei "ein deutsches Problem", sagte er.
Etliche andere osteuropäische Staaten teilen seine Kritik. Aber Ungarn hat besonders kritisch auf die Ankündigung aus Berlin reagiert, aus pragmatischen und humanitären Gründen Syrer nicht mehr in das europäische Land zurückzuschicken, in dem sie zuerst angekommen sind. Sollten seine Ansichten auch in Westeuropa Akzeptanz finden, könnte das angesichts erstarkter rechter Parteien in vielen Ländern den Versuch Berlins unterminieren, die Flüchtlinge gerechter auf Europa zu verteilen.
Meinungsumfragen aus der vergangenen Woche zeigten, dass bislang eine überwältigende Mehrheit der Deutschen es befürwortet, Menschen zu helfen, die vor Bürgerkrieg und Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen. Die Hilfsbereitschaft vieler Deutscher an den Empfangsbahnhöfen, wo nach jüngsten Schätzungen der Polizei bis zu 17.000 Flüchtlinge an diesem Wochenende erwartet werden, ist ein deutlicher Ausdruck dieser Einstellung.
Aber die offen geäußerten Kommentare anerkannter CSU-Politiker zeigen, dass diese Hilfsbereitschaft für viele Deutsche auch Grenzen haben wird. Und die könnten offen zutage treten, wenn die Euphorie der ersten Hilfe der schwierigeren Aufgabe weicht, den immer zahlreicher kommenden Flüchtlingen langfristige Perspektiven in Deutschland zu bieten.
Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande sprachen sich in der vergangenen Woche für feste Quoten aus, um die ankommenden Flüchtlinge gleichmäßig auf die 28 EU-Staaten zu verteilen. Nach Angaben von EU-Diplomaten bedeutet dieser Plan, dass mindestens 160.000 Migranten innerhalb der EU eine neue Heimat finden müssten, wobei vor allem die größeren und reicheren Länder mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten.
Nigel Farage, der Führer der euroskeptischen britischen Unabhängigkeitspartei, sagte am Freitag, Kanzlerin Merkel habe den Leuten noch mehr Anreize gegeben, nach Europa zu kommen. Die Flüchtlingswelle werde zu einer Art "panischer Ansturm", sagte Farage. "Wenn die Europäische Union wirklichen Flüchtlingen ernsthaft helfen wolle, so muss sie Hilfszentren außerhalb ihrer Grenzen errichten." Die Anträge der Menschen müssten dann "korrekt" vor Ort behandelt werden statt die Flüchtlinge "einzuladen und damit diesen Run" auf Europa auszulösen, sagte er bei einer Wahlkampfveranstaltung.
Farage spricht dabei offen die Sorgen vieler nationalistischer und eurofeindlicher Menschen in Europa an. Er warnte in der Vergangenheit gerne vor Migrationsbewegungen "biblischen Ausmaßes" und davor, dass mit den Flüchtlingen auch Kämpfer des Islamischen Staates nach Europa kommen könnten.
Mitarbeit: Nick Kostov und Neetha Mahadevan. Kontakt zum Autor: unternehmen.de@dowjones.comDJG/DJN/kgb (END) Dow Jones Newswires
September 06, 2015 11:42 ET (15:42 GMT)
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