11.01.2014 17:29:59
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Badische Zeitung: Es gibt nicht die eine Demokratie für alle - Gastbeitrag von Wolfgang Jäger
Freiburg (ots) - Es ist ein Gemeinplatz, dass mit dem
Demokratiebegriff viel Schindluder getrieben wird. Dennoch
qualifizieren wir tagaus, tagein bestimmte Vorgänge oder
Institutionen als demokratisch oder undemokratisch - meist, wie es
unserer eigenen Interessenlage entspricht. Was ist nun eigentlich
Demokratie? Wir sind uns einig, dass die sozialistischen
Volksdemokratien wie die Sowjetunion oder die DDR keine Demokratien
waren, und dass Kuba, Nordkorea und Saudi-Arabien keine Demokratien
sind. Schwieriger wird die Beurteilung der westlichen Demokratien.
Unter Politikwissenschaftlern ist es Mode geworden, auch diese
hinsichtlich ihrer demokratischen Qualität zu gewichten. So misst
beispielsweise ein sogenanntes "Demokratiebarometer" das Ausmaß der
Demokratie in 30 Ländern. Mit 100 Indikatoren wird die Umsetzung der
Werte Freiheit, Gleichheit und Machtkontrolle überprüft. Man reibt
sich angesichts der Ergebnisse die Augen. Das vom Zerfall bedrohte
Belgien rangiert unter den ersten drei Ländern, die alten Demokratien
Frankreich und Großbritannien unter den letzten fünf. Selbst die
Schweiz erreicht nur einen Mittelwert. Deutschland kommt auf Platz
11, hinter den USA mit Platz 10. Das Barometer gaukelt nur Präzision
vor; im Ergebnis drückt sich nämlich das normative Vorverständnis der
Demokratie aus. Wer etwa das Mehrheitswahlrecht als undemokratisch
ansieht oder eine ausgeprägte Verfassungsgerichtsbarkeit vermisst,
braucht sich über die negative Einschätzung der betreffenden
politischen Systeme nicht zu wundern. Nicht nur
Politikwissenschaftler, auch politische Beobachter neigen immer mehr
dazu, die Qualität der Demokratie in den Mitgliedsländern der
Europäischen Union zu taxieren. Deutsche legen oft selbstgerecht den
Maßstab unseres Grundgesetzes an andere an. Es gibt jedoch kein
einheitliches Demokratiekonzept. Selbst unverzichtbare Wesensmerkmale
wie die Einhaltung der Menschenrechte, Gewaltenteilung sowie das
allgemeine und gleiche Wahlrecht können unterschiedlich ausgeprägt
sein. Am Beispiel eines Vergleichs von Deutschland und Frankreich
lässt sich dies gut demonstrieren. Beide Länder haben
unterschiedliche politische Kulturen, die in verschiedenen
historischen Erfahrungen wurzeln. Selbst innerhalb der beiden Länder
gibt es solche Unterschiede. Die Südbadener haben andere politische
Erfahrungen und Einstellungen als die Hanseaten. Dies drückt sich
heute noch in ihrem Wahl- oder Protestverhalten aus. In Frankreich
gilt dies ebenfalls für Bretonen oder Mittelmeeranrainer. In einem
nationalen Vergleich mit Deutschland ist Frankreich plebiszitärer
ausgerichtet - sowohl durch die Direktwahl des Präsidenten und durch
die Möglichkeit von Volksabstimmungen in zentralen
staatsorganisatorischen Fragen als auch durch die Neigung zu
eruptivem Widerstand gegen die Staatsgewalt. Staat und Bürger können
hart aufeinanderstoßen. Volkssouveränität und politische Führung
stehen in einer Spannung zueinander, die sich häufig entlädt.
Deutschland dagegen, wo der Rechtsstaat älter ist als die Demokratie,
liebt den Konsens. Politische Entscheidungen kommen im Einvernehmen
aller wesentlichen Akteure im Bund und in den Ländern zustande - mit
der häufigen Folge des kleinsten gemeinsamen Nenners. Die Dominanz
des Bundesverfassungsgerichts würden die Franzosen eher als
undemokratische Oligarchie weniger Persönlichkeiten verstehen, die in
einem intransparenten Verfahren berufen werden. Die deutsche
Konsensorientierung würde manch älteren Franzosen eher an die
Parteienherrschaft der Vierten Republik erinnern, die General de
Gaulle mit seiner Verfassung der Fünften Republik durch eine
plebiszitär untermauerte, starke politische Führung überwand.
Ähnliche Überlegungen könnten zu Großbritannien, Italien oder den
neuen Demokratien Ostmitteleuropas angestellt werden. Die Vielfalt
der Demokratiegestaltung stellt nicht eine Schwäche, sondern den
Reichtum Europas dar, auch und erst recht unter dem Dach der
europäischen Integration. Europa lebt in seinen Gliedern
unterschiedliche demokratische Experimente - wie schon in der
Vergangenheit, als das lebhafte konstitutionelle Geschehen in
Frankreich Teile Deutschlands beeinflusste. Eine Überheblichkeit, die
bessere Demokratie zu haben, ist schon deshalb nicht angebracht, da
der Demokratiebegriff selbst nie statisch sein kann, sondern im
politischen Prozess und Diskurs immer neu entwickelt, ja erfunden
werden muss.
- Der Autor ist Politikwissenschaftler und war Rektor der Universität Freiburg
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Pressekontakt: Badische Zeitung Anselm Bußhoff Telefon: 07 61 - 4 96-0 redaktion@badische-zeitung.de
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