Mainz (ots) - Radikaler Pragmatismus an der Grenze zur
Selbstverleugnung: Selten sind der Kern des Merkelschen
Politikverständnisses und seine Umsetzung in tatsächliches Handeln so
offen zu Tage getreten wie in der zurückliegenden Woche. Zuerst lässt
die Kanzlerin eine hässliche Attacke des Kanzler-Gegenkandidaten
("Anschlag auf die Demokratie") ungerührt abtropfen, um noch im
selben Gespräch und quasi im Vorbeigehen eine fundamentale Position
der eigenen Partei zu opfern. Um den Preis, damit eine Entscheidung
gegen ihr eigenes Gewissen herbeizuführen, wie ihr
Abstimmungsverhalten zur "Ehe für alle" offenbart hat. Ob Merkel nun
selbst vom plötzlichen Tempo des Verfahrens überrascht wurde oder
nicht, ist dabei unerheblich. So oder so hat sie erneut die Aufgabe
von Parteigrundsätzen in Kauf genommen, um sich jegliche Koalitions-
und Machtoption offen zu halten. Andere Parteichefs müssten deswegen
früher oder später zurücktreten. Aber, und das ist das Phänomen
Merkel: Zu ihrem Schaden wird auch die neuerliche Wandlung nicht
sein. Weil die alte CDU-Position gesellschaftlich nicht mehr
mehrheitsfähig ist, und weil Merkel weiß, wann Pragmatismus gefragt
ist statt Fundamentalismus. Zwar zürnt nun mancher in der Partei,
diese steht vor einer Werte-Debatte. Hat die CDU überhaupt noch
welche? Doch bis zur Wahl am 24. September ist es noch lang, und in
der CDU wird man der Kanzlerin noch dankbar dafür sein, dass sie das
unangenehme Thema "Ehe für alle", ob nun gewollt oder nicht, schon
frühzeitig abgeräumt hat. Sehr wahrscheinlich hätten sogar noch mehr
CDU-Abgeordnete für die Gleichstellung der Homo-Ehe gestimmt, hätte
die SPD nicht mit ihrem Quasi-Koalitionsbruch Widerstand provoziert.
Immerhin hat Merkel mit dem Nunja-weiß-nicht-warum-auch-nicht zur
"Ehe für alle" den Wählern einen großen Dienst erwiesen. Denn diesen
bleibt mit der Bundestagsentscheidung vom Freitag ein quälender
Wahlkampf zu einem Thema erspart, das in der Lebenswirklichkeit der
meisten Bürger praktisch keine Rolle spielt, und das auf deren
Dringlichkeitsskala sehr weit hinten rangiert. Bei allem Respekt für
die Bedeutung, die die "Ehe für alle" für diejenigen hat, denen sie
bislang verwehrt wurde, und bei aller Wertschätzung für die
Neuregelung: Es gibt wirklich weitaus bedeutendere Probleme in diesem
Land. Um deren Bearbeitung sollte es in den kommenden Monaten und in
der neuen Regierung gehen. Mit dem Ja zur "Ehe für alle" ist das Land
nun endlich in der Gegenwart angekommen - und das ist sehr gut so.
Aber jetzt, bitte, schnell wieder zu den wichtigeren Themen.
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