22.05.2019 21:13:42
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Allg. Zeitung Mainz: Gut verfasst / Friedrich Roeingh zu 70 Jahre Grundgesetz
Mainz (ots) - Wer die Kühnheit des Grundgesetzes erfassen will,
braucht nur auf zwei Artikel zu schauen. Artikel 3, "Männer und
Frauen sind gleichberechtigt" und Artikel 102, "Die Todesstrafe ist
abgeschafft". Wenn wir heute die Abschaffung der Todesstrafe aus der
Überwindung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft herleiten,
dann ist das nicht falsch und doch ist es geschichtsvergessen. Als
die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes die Todesstrafe -
nach heftigsten Auseinandersetzungen - als Unrecht geißelten, war sie
noch in allen vier Siegermächten legitimiert und wurde vielfach
vollstreckt. Artikel 102 entfaltete vom ersten Geltungstag des
Grundgesetzes an seine Wirkung. Die Norm von der Gleichberechtigung
von Mann und Frau war dagegen 1949 eher Utopie denn gesellschaftliche
Realität. Erst 1958 durften Ehefrauen ohne Einwilligung ihres Mannes
den Führerschein machen, 1962 ein Konto eröffnen und 1977 - nach
Abschaffung der "Hausfrauen-Ehe" - einen Beruf ergreifen. Erst 1997
wurde die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.Der Stolz
der (West)deutschen auf ihre freiheitliche und fortschrittliche
Verfassung paarte sich also zumindest in Fragen der
Gleichberechtigung über viele Jahrzehnte mit Ignoranz. Der Stolz auf
das Provisorium namens Grundgesetz war unter den Deutschen gleichwohl
unbestritten und stützte sich natürlich auf die historischen
Umstände. Nach dem industriellen Völkermord der Nazis war das
Grundgesetz eine Art Rückfahrkarte in die zivilisierte Welt, wobei
die Väter der Verfassung - siehe Abschaffung der Todesstrafe - den
Besatzern keineswegs nach dem Mund redeten. Das Grundgesetz wurde zum
Identifikationsanker der (West)Deutschen, weil die (geteilte) Nation
und ihre (belastete) Geschichte als Identifikationsanker nicht zur
Verfügung standen. Und weil die deutsche Kultur im Angesicht der DDR
nichts Exklusives hatte. Die Klugheit und die Kühnheit des
Parlamentarischen Rates aber wurde für den Prozess der deutschen
Einheit gewissermaßen zum Verhängnis. Weil sich die Westdeutschen
keine bessere Verfassung vorstellen konnten, weil sie inzwischen an
ihrem Grundgesetz hingen, ignorierten sie das Provisorium, das dieser
Verfassung eigentlich auferlegt worden war. So wurde die deutsche
Einheit aus Sicht der alten Bundesrepublik zu einer Art
Gebietsreform, die die armen Brüder im Osten in ihre prosperierende
Wirtschaftsordnung und die gut ausgestatteten Sozialsysteme aufnahm.
Zum Identitätsanker konnte das Grundgesetz in Ostdeutschland so nie
werden. Eine Hypothek, die sich leider nicht tilgen lässt. Und in
Zeiten beschleunigter Zuwanderung und zur Zeit des Erstarkens der
Rechtspopulisten stellt sich allen Verfassungspatrioten eine ganz
neue Herausforderung. Sie müssen lernen, dass nicht alle, die die
Freiheiten des Grundgesetzes in Anspruch nehmen, diese auch
wertschätzen. Wir müssen jeden Tag und gegenüber jedermann darauf
bestehen, dass das Grundgesetz gilt. Der gute Staatsbürger schützt
seine Verfassung ebenso, wie die Verfassung ihre Staatsbürger
schützt.
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