20.12.2024 06:05:00

30 Jahre in EU - wiiw: EU-Integration ist eine Erfolgsgeschichte

"Österreich ist wirtschaftlich gesehen eine Erfolgsgeschichte, und die Integration in den europäischen Markt ist ein Teil dieser Geschichte", so lautet die Bilanz von wiiw-Direktor Mario Holzner über die vergangenen drei Jahrzehnte von Österreichs EU-Mitgliedschaft. Profitiert hätten nicht nur die Gesamtwirtschaft und große Unternehmen, sondern auch die Bürger. Dass viele Österreicher dennoch so eine schlechte Meinung zur EU hätten, sei "tragisch".

Dass Österreichs Wirtschaft von der EU-Mitgliedschaft und später auch der EU-Osterweiterung profitiert habe, sei unübersehbar, sagte Holzner. "Da muss man nur mit offenen Augen durch Wien gehen und sich anschauen, was sind die großen neuen Gebäude? Das sind der Erste-Campus, die UNIQA-Türme am Donaukanal, die Raiffeisen-Türme beim Stadtpark, die Vienna Insurance Group hat auch haufenweise neue Gebäude, der Flughafen-Wien-Ausbau - das sind die Gewinner der Osterweiterung." Wien und damit auch Österreich habe seine zentrale Funktion im europäischen Raum, die es bis 1918 gehabt habe, wiedererlangt. Nach einer langen Zerstörung Mitteleuropas habe ab 1991 wieder alles begonnen zusammenzuwachsen. Danach habe man dort wieder angeknüpft, wo man 1918 aufgehört habe.

Österreich beim Lebensstandard in der "Top-Liga"

"Raiffeisen und Erste Bank sind die Banken der Region, UNIQA und Vienna Insurance Group sind die Versicherungen der Region, Spar und Rewe bzw. Billa sind die großen Retailer, die in der Region aktiv sind oder auch teilweise Aldi Süd über Hofer." Aber auch die Bürger hätten profitiert. "Österreich ist beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Kaufkraft-Paritäten, aber auch bei den Median-Haushaltseinkommen zu Kaufkraft-Paritäten in der Top-Liga. Es gibt nicht viele andere Länder in Europa und damit in der Welt, die einen höheren Lebensstandard haben. Da ist man bei Dänemark, den Niederlanden und Schweden mit dabei." Dass Österreich nach den vielen Katastrophen und der Liquidation und Vertreibung der intellektuellen Eliten noch einmal so ein Comeback schaffen würde, "hätte man wahrscheinlich nach 1918 und 1945 nicht unbedingt annehmen müssen".

Die Integration in den europäischen Markt und in den Weltmarkt sei ein Teil von Österreichs Erfolgsgeschichte. "Österreich ist ein Exportland und hat Unternehmen, die nicht riesig sind - aber sie sind in einem extrem schmalen Segment Weltmarktführer. Und das geht nur in einer Welt, in der die durchschnittlichen Zölle ein paar Prozent ausmachen und nicht 70 Prozent oder prohibitiv sind." Das neutrale Österreich habe das Glück, von friedlichen Ländern umgeben zu sein und gemessen am BIP sehr niedrige Militärausgaben. "Das Geld hat man in objektiv gesehen nützlichere Dinge investieren können." Das werde jetzt teilweise in Frage gestellt.

Sozialpartnerschaft "kurz davor zu kippen"

Ein wesentlicher Faktor sei auch die Sozialpartnerschaft, "die jetzt wahrscheinlich kurz davor ist zu kippen". Kaum ein anderes Land habe so eine fast vollständige Abdeckung bei Kollektivvertragslöhnen. "Die österreichischen Industrie können in Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit makroökonomischer Verantwortung ihren eigenen Preis setzen - eine eigene Währung ist nichts dagegen." Die Preiskommissionen, die es bis in die späten 1980er und 90er Jahre gegeben habe, "hätte man jetzt brauchen können", meint der Ökonom. Nun werde diese Sozialpartnerschaft aber zunehmend in Frage gestellt und sei in Gefahr.

Für seine künftige Rolle in der EU könnte sich Österreich etwa ein Beispiel an Luxemburg nehmen, das als sehr kleines Land wichtige Impulse gesetzt habe. "Davon kann jedes kleinere EU-Mitglied lernen." Es fehle aber oft das Verständnis, "dass die Europäische Union unsere Heimat und die Basis unseres wirtschaftlichen Erfolges ist und letztlich auch unserer sozialen und kulturellen Identität." Aber Österreich sei "das Land, das bizarrer Weise die schlechteste Meinung der Bevölkerung zur Europäischen Union hat - was tragisch ist."

Der oft angestellte Vergleich mit der erfolgreichen Schweiz, die nicht EU-Mitglied ist, hinkt nach Ansicht von Holzner. Die Schweiz habe keinen der beiden Weltkriege mitgemacht und sei auch deshalb zu einem der wichtigsten globalen Finanzplätze geworden.

Jetzt gehe es um die Weiterentwicklung und Vertiefung der Europäischen Union, und föderale Bundesstaaten wie etwa auch Deutschland hätten damit ein größeres Problem, weil Länder wie etwa Bayern kein Vertrauen in die Bundesebene hätten. "Wie kann man von denen erwarten, dass sie dann auch noch Vertrauen in eine europäische Ebene haben sollen?"

Deutsche Wirtschaftspolitik ein "kollektiver Irrsinn"

Der schmerzliche Schrumpfungsprozess der deutschen Automobil- und chemischen Industrie "ist vielleicht längerfristig eine Chance für die EU, sich von einer zu starken Exportorientierung loszulösen". Die Nachfrage in Europa zu stärken und nicht vor allem die USA und China als die Hauptmärkte zu sehen "wäre vielleicht der richtige Weg". Dann könnte man sich Gedanken über ein gemeinsames Budget, eine gemeinsame Verteidigung, Industriepolitik und die Finanzierung der europäischen Infrastruktur machen.

Das Problem der föderalen Struktur habe auch Österreich. "Keines der Bundesländer hat ein übertriebenes Interesse daran, eigene Steuer- und Ausgabenautonomie zu erlangen. Man hat über den Finanzausgleich die Bundesebene als eine Art Finanzierungsagentur der Länder, das ist quasi der Bankomat der Bundesländer." Er plädiere damit keineswegs für die Abschaffung der Bundesländer, betonte Holzner. Die Bundesländer sollten aber mehr Steuerautonomie haben.

Dass es Deutschland jetzt wirtschaftlich schlecht gehe, liege vor allem an selbst gemachten Problemen und einer "vollkommen von jeglicher Realität und Pragmatismus abgehobenen politischen Kaste, die mit dieser Selbstbeschneidung der Schuldenbremse Deutschland und Europa gefährdet." Dafür sei nicht nur eine politische Partei verantwortlich, sondern es sei ein "kollektiver Irrsinn". Als größte Volkswirtschaft im Kern eines Wirtschaftsraums hätte Deutschland Nachfrage schaffen und Importüberschüsse generieren müssen. "Osteuropa hätte viel stärker wachsen können, wenn die deutsche Politik eine andere gewesen wäre."

Dennoch sei die Osterweiterung der EU auch für die Region eine Erfolgsgeschichte gewesen, sagt der stellvertretende wiiw-Direktor Richard Grieveson. Es habe einen ständigen Aufholprozess gegenüber Westeuropa gegeben. "Viele dieser Länder haben jetzt Teile von Südeuropa überholt. Tschechien, Slowenien und jetzt auch Estland sind reicher als Griechenland und Portugal und beim BIP pro Kopf fast auf spanischem Niveau. Die wirtschaftliche Geographie Europas hat sich verändert. Mitteleuropa ist der Kern der europäischen Wirtschaft." Das gelte für Tschechien, Ungarn und die Slowakei, aber vor allem Polen und Rumänien seien die größten Erfolgsgeschichten.

Gegen die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens habe es seinerzeit Bedenken gegeben. "Aber was wäre das Alternativszenario? Was wäre aus Rumänien geworden, wenn es nicht der EU beigetreten wäre?", so Grieveson. "Aus heutiger Sicht war das die richtige Entscheidung." Im Vergleich dazu sei der Beitritt zur Eurozone nicht allzu wichtig, meint Holzner.

Großbritannien hat durch Brexit an Bedeutung verloren

Der Brexit habe dazu geführt, dass Großbritannien für die EU wirtschaftlich an Bedeutung verloren habe, sagte Grieveson. "Vor zehn Jahren waren Großbritannien und die USA als Handelspartner ungefähr gleich wichtig für die EU. Jetzt sind die USA fast doppelt so wichtig wie Großbritannien." Die neue britische Regierung sei zwar konstruktiver im Hinblick auf die EU, aber einen Wiedereintritt in die EU werde es nicht geben. "Auf einer gewissen Ebene muss man den Brexit-Leute auch dankbar sein", meint Holzner, "weil sie den Europäern und der Welt zeigen, was passiert, wenn man aus einer Union ausbricht. Das ist eine Lose-lose-Situation - es hat eigentlich jeder verloren." Darum sei auch ein EU-Austritt Ungarns trotz der großen Differenzen mit der EU-Kommission kein realistisches Szenario.

Realistisch sei hingegen ein EU-Beitritt Montenegros bis 2030, meinen die wiiw-Ökonomen. Montenegro und Nordmazedonien bräuchten nur etwas mehr Unterstützung von Deutschland, Italien und Österreich. Diese Länder könnten problemlos in die EU aufgenommen werden. "Der ganze Westbalkan ist vom BIP her die Hälfte Griechenlands, das macht keinen Unterschied, es kostet nichts", so Holzner. "Wenn man ein paar Erfolgsgeschichten hätte, wäre wahrscheinlich auch die serbische Bevölkerung eher bereit, den Verlust des Kosovo irgendwann anzuerkennen und letztlich auch, dass Bosnien ein Einheitsstaat ist und nicht da ist, um aufgeteilt zu werden. Das sind die zwei Kernthemen, die es verhindern, dass Serbien, Kosovo und Bosnien überhaupt der EU beitreten, solange das nicht geklärt ist. Albanien könnte wahrscheinlich auch zusammen mit Montenegro und Mazedonien beitreten."

Aufnahme der Ukraine wäre für EU verkraftbar

Auch Serbien könnte den EU-Beitritt schaffen, meint Grieveson, trotz seiner engen Beziehung zu Russland. Vor allem ökonomisch seien etwa Serbiens Beziehungen zu China viel wichtiger als jene zu Russland.

Auch die Aufnahme der Ukraine wäre ökonomisch trotz der Größe des Landes für die EU verkraftbar, so Grieveson. Das Problem sei vor allem die Sicherheitslage. "Jeder Beitrittsprozess hat strukturelle Auswirkungen. Es wird sicher negative Auswirkungen in einigen Ländern und einigen Industrien geben. Das ist in jeder Beitrittsrunde so. Aber insgesamt profitiert die EU von jeder Erweiterung."

(Das Gespräch führte Ivan Novak/APA)

ivn/beg

ISIN WEB http://www.wiiw.ac.at/

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