05.11.2015 21:07:37
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BERLINER MORGENPOST: Leitartikel von Joachim Fahrun zu den Plänen des Berliner Senats, Flüchtlingsunterkünfte auf dem Tempelhofer Feld zu bauen: Tempelhof statt Turnhallen
Berlin (ots) - Die Flüchtlingskrise stellt viele Gewissheiten
infrage. Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass wir es
akzeptabel finden würden, 1000 Menschen wochenlang in einer riesigen
Halle auf Feldbetten schlafen zu lassen? Von kleinen, dezentralen
Heimen, die eine Integration der Menschen erleichtern, ist schon
lange keine Rede mehr. In der Erwartung von voraussichtlich bis zu
80.000 Flüchtlingen in diesem Jahr allein in Berlin macht auch der
Senat ein politisch hochbrisantes Thema wieder auf: die Bebauung des
Tempelhofer Feldes, die das Volk vor kaum anderthalb Jahren mit einer
deutlichen Mehrheit abgelehnt hatte. Natürlich weckt das den Argwohn,
die Volksentscheid-Verlierer um den Regierenden Bürgermeister Michael
Müller wollten den Willen des Souveräns nachträglich beugen. Der
Verdacht ist auch nicht unberechtigt. Schließlich haben Müller und
sein Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel das umkämpfte Feld nie
völlig aus den Augen gelassen bei ihrer Suche nach geeigneten Flächen
für preisgünstigen Wohnungsneubau. Aber der Druck durch die ohnehin
wachsende Bevölkerung hat sich durch die vielen Flüchtlinge noch
einmal potenziert. Die Berliner müssen sich fragen, ob sie die
Entscheidung gegen Wohnungen auf dem Tempelhofer Feld mit dem Wissen
von heute noch einmal so treffen würden wie im Mai 2014. Damals ging
es auch gegen eine intransparente Planung, schlechte Kommunikation,
ein ungeliebtes Großprojekt Zentralbibliothek und einen Regierenden
Bürgermeister Wowereit, den die Stadt nicht mehr wollte. Wer einmal
eine Notunterkunft oder Erstaufnahmestelle besucht und die Bilder der
Flüchtlings-Karawane auf dem Balkan gesehen hat, versteht, dass man
den Platz auf dem Feld womöglich nutzen sollte, um die akute Krise zu
lindern. Der Senat muss seine Pläne aber gut begründen und aufhören,
Versteck zu spielen. Die Politiker müssen klar sagen, was uns
erwartet. Bei 600.000 Menschen, die die UN bis Februar 2016 auf der
Balkanroute schätzen, sollte sich niemand Illusionen machen. Bisher
hat der Sozialsenator noch jede jemals angedachte
Unterbringungsmöglichkeit unter dem Druck der Realitäten irgendwann
herangezogen. Und ehe weitere Schulturnhallen belegt werden, sind
Mobilbauten oder Traglufthallen in Tempelhof sicher die bessere
Lösung. Aber nichts wird helfen, wenn der Zustrom von Menschen
ungebremst anhält. Dann sind irgendwann Hangars, Turnhallen und das
Tempelhofer Feld voll. Die Bundesregierung hat das dramatische
Problem zu lange ignoriert. Jetzt endlich ist es dort angekommen, wo
es schon vor Monaten hingehört hätte: bei der Bundeskanzlerin und den
Spitzen der Koalition. Dabei ist Realitätssinn gefordert. Die
deutschen Systeme für die Aufnahme von Asylsuchenden haben sich als
bürokratische Farce entlarvt. Menschen werden gar nicht oder mehrfach
registriert; wenn sie abgeschoben werden sollen, sind viele nicht
auffindbar; Verfahren ziehen sich über Jahre hin. Registrierung und
Aufnahme zu zentralisieren, wie es die drei Parteichefs von CDU, CSU
und SPD jetzt beschlossen haben, ist deshalb richtig, ob diese
Einrichtungen nun Transitzonen oder anders heißen. Die Flüchtlinge
müssen einen Anreiz haben, sich einem geordneten Verfahren zu
unterziehen. Auch wenn das dazu führen kann, dass viele von ihnen
Deutschland schnell wieder verlassen müssen. Ob die Einigung in der
Koalition diese Anforderung erfüllt, muss die praktische Umsetzung
zeigen. Es muss gelingen, ein Zeichen in die Herkunftsländer zu
senden. Für alle, deren Leben nicht direkt durch Verfolgung und Krieg
bedroht ist, lohnt es sich eben doch nicht, sich auf den Weg zu
machen. Nur dann wird es möglich sein, den Bürgerkriegsopfern Schutz
und Obdach zu gewähren. Und sei es erstmal in Traglufthallen auf dem
Tempelhofer Feld.
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